Montag, 18. Oktober 2021

Das Reformationsdenkmal in seiner monumentalen Begrenztheit

Ein Zitat

Das Reformationsdenkmal in Genf
Foto © Jörg Niederer
"Freilich, einen ganz grossen, überwältigenden Eindruck, wie ihn nur das einheitliche, in sich geschlossene Kunstwerk auszuüben vermag, wird man von dieser geschmückten Mauer, die nie als Einheit, sondern nur partiell genossen werden kann, nicht empfangen, und mancher wird die unangenehme Vorstellung von einer Plakatwand oder einer modernen italienischen Kirchhofmauer nicht ganz loswerden." Zitat zum Reformationsdenkmal aus: "Die Schweiz" XII 1908, S. 502

Ein Bibelvers - Kolosser 3,12

"Gott hat euch als seine Heiligen erwählt, denen er seine Liebe schenkt. Darum legt nun das neue Gewand an. Es besteht aus herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld."

Ein Anregung

Genf ohne Besuch beim Reformationsdenkmal, das geht nicht. Mich erinnert dieses Monument an die Denkmäler in Washington DC, an Lincoln, Roosevelt und Martin Luther King. Monumental und unüberschaubar. 

Was vor über 100 Jahren den Schreiber eines Beitrags in der Zeitschrift "Die Schweiz" störte, stimmt schon. Es ist ein Denkmal, durch das und entlang dem man schreiten muss. Anders ist es nicht zu überblicken.

Wer der Mauer entlangschreitet, begegnet bedeutenden Persönlichkeiten der Reformation. Sie alle wollten einst Licht ins Dunkel bringen, gemäss dem über dem Denkmal stehenden Wahlspruch Genfs und der Reformation: "Nach der Dunkelheit Licht"

Dafür stehen die Statuen bedeutender Männer der Reformation. Begonnen bei Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688), Wilhelm von Nassau (1533–1584), Gaspard de Coligny (1519–1572), Guillaume Farel (1489-1565), Johannes Calvin (1509-1564), Theodor Beza (1519-1605), John Knox (1514-1572), Roger Williams (1603–1683), Oliver Cromwell (1599–1658), bis und mit Stephan Bocskai (1557–1606). Weitere Namen von Reformatoren sind zu finden. In der Treppe aus Granit vom Mont Blanc entdeckt man Martin Luther (1483-1546) und Huldrych Zwingli (1484-1531) eingraviert. 

Inklusiv ist dieses Denkmal nicht. Alles Männer aus dem Kulturraum Europas. Das änderte sich mit der Ergänzung von weiteren Namen im Jahr 2002 nur unwesentlich: Hinzu kamen die Vorläufer der Reformation Petrus Waldes (gestorben vor 1218), John Wyclif (1330-1384) und Jan Hus (1370-1415).

Der grosse Quantensprung aber ist die Erwähnung der ersten Reformatorin Marie Dentière (ca. 1495–1561). Natürlich habe ich ihren Namen auf einem der Blöcke am Rande des Monuments bei meinem Besuch glatt übersehen.

Übersehen; das jahrhundertelange Los aller Frauen, auch bei den fortschrittlichen Reformatoren. Sie wurden übersehen, von der Bildung ausgeschlossen, trotz Bildung nicht ernst genommen, gesellschaftlich geächtet und als wissenschaftliche Partnerinnen nicht anerkannt. Man lese nur vom Geschick Marie Dentière

In ihrer Zeit verhaftet hat die Reformation noch manches nicht reformiert und Jahrhunderte hinausgeschoben, was dringend nötig gewesen wäre. Der Umgang mit den Täufern, Juden und Hexen war kein Ruhmesblatt. Und so frage ich mich, wo wir heute unsere blinden Flecken haben, wo heute dringender Handlungsbedarf wäre, wir aber der festen Meinung sind, dass das unnötig sei. Denn auch über uns wird man dereinst in manchen Bereichen unseres Handelns und Glaubens zu Recht den Stab brechen.

Mich hat das Reformationsdenkmal bescheiden gemacht. Gerade in seiner Monumentalität zeigt es unverstellt auch die Beschränktheit vergangener Jahrhunderte.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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