Dienstag, 28. Februar 2023

Totentanz, Lebenstanz

Ein Zitat

Ein Paar tanzen in inniger Umarmung in der Bahnhofsunterführung Zürich.
Foto © Jörg Niederer
"Wenn man weiss, warum man gelebt hat, vielleicht auch nur ahnt, worauf es ankommt und wohin es mit uns hinaus will, dann kann man ebenso gut weiterleben wie abgerufen werden: Man ist einverstanden mit dem einen wie mit dem anderen." Hannelore Frank (1927-1973)

Ein Bibelvers - Prediger 3,1+4

"Für alles gibt es eine bestimmte Stunde. Und jedes Vorhaben unter dem Himmel hat seine Zeit: ... Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen. Eine Zeit zum Klagen und eine Zeit zum Tanzen."

Eine Anregung

In der Bahnhofsunterführung in Zürich tanzt ein Paar selbstvergessen, während Reisende an ihnen vorbeieilen. 

Ich denke zurück an den Besuch bei meiner Mutter, fünf Tage, nachdem mein zwei Jahre jüngerer Bruder überraschend verstorben ist. Auf ihrem Tisch im Altersheim liegt das Gesangbuch der Methodisten aufgeschlagen bei einem Lied, das Gottes Weg bei den Menschen als Tanz beschreibt. Der deutschsprachige Text des englischen Lieds: "I danced in the morning when the world was begun" nimmt mich mit, bewegt von der jüngsten Erfahrungen von Tod und Leben. 

"Ich tanzte im Himmel, als die Welt begann, / mit Sonne und Mond; und der Schöpfungstanz fing an. / Ich tanzte voll Liebe in die Welt hinein; / in Betlehem, dort wurde ich ganz klein./ Tanzt! Tanzt! Ich führe euch zum Tanz. / Ich bin der Meister, ich trag den Kranz, / bis die ganze Welt sich dreht in meinem Glanz. / Tanzt mir nach, ich lehr euch den Lebenstanz." 

Vor 61 Jahren freuten sich meine Eltern über die Geburt ihres zweiten Sohns. Doch nun sind die Tage tränenreich. 

"Ich tanzte am Freitag; doch das Todesholz, / das drückte mich nieder, das Böse tanzte stolz. / Der Himmel war finster und mein Tanz schien aus; / doch mein Tanz, der führt' aus dem Tod hinaus."

Ich weiss gar nicht, ob mein verstorbener Bruder tanzen konnte. Musik und Kunst liebte er.

"... / Bei mir ist das Leben, denn ich bin der Sinn. / Ich führe euch tanzend zum Vater hin."

Im Gesangbuch unter diesem Lied, auf dem verbleibenden Platz, stehen Worte von Hannelore Frank, der ersten Pfarrerin im Ort List auf der Insel Sylt: "Hoffnung / das Vertrauen, dass noch etwas kommt, / fast gegen die Vernunft und sämtliche Erfahrungen." Diese Worte trösten mich. 

Die Melodie des Lieds klingt in mir nach: 

"Tanzt! Tanzt! Ich führe euch zum Tanz. / ... / Tanzt mir nach, ich lehr euch den Lebenstanz."

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde 

Montag, 27. Februar 2023

Vom Himmel und der Liebe

Ein Zitat

Wolkenzauber am Himmel bei Sonnenuntergang, fotografiert aus dem fahrenden Zug.
Foto © Jörg Niederer
"Auch durch ein Nadelöhr kann man den Himmel sehen." Redensart aus Japan

Ein Bibelvers - Psalm 124,8

"Beim Namen des Herrn finden wir Hilfe. Himmel und Erde hat er gemacht."

Eine Anregung

Der Himmel ist für viel Sehnsuchtsort und Hoffnungsziel. Mir gefällt, wie Kurt Marti von ihm spricht. Nicht in barocker Verklärung, sondern mit wenigen Worten, nüchtern und doch voller Liebe zum Leben. 

"Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel, der kommt, wenn einst Himmel und Erde vergehen.

Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr, wenn die Herren der Erde gegangen.

Der Himmel, der kommt, das ist die Welt ohne Leid, wo Gewalttat und Elend besiegt sind.

Der Himmel, der kommt, das ist die fröhliche Stadt und der Gott mit dem Antlitz des Menschen.

Der Himmel, der kommt, grüsst schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verändert." 

Als Lied vertont werden die Worte von Kurt Marti noch eindringlicher.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Sonntag, 26. Februar 2023

Heute gehe ich den Weg des Frieden

Ein Zitat

Der Himmel über Matzingen und die Freiheit der Vögel.
Foto © Jörg Niederer
"Das Ego: 'Wenn alles passt, finde ich Frieden.' Der Geist: 'Finde Frieden, dann passt alles.'" Marianne Williamson

Ein Bibelvers - Johannes 14,27

Jesus: "Zum Abschied schenke ich euch Frieden: Ich gebe euch meinen Frieden. Ich gebe euch nicht den Frieden, wie ihn diese Welt gibt. Lasst euch im Herzen keine Angst machen und lasst euch nicht entmutigen."

Eine Anregung

Die Berufskollegin Erika Stalcup hat mich mit einem Beitrag in Facebook auf ein eindrückliches, leicht zu singendes Lied aufmerksam gemacht, geschrieben von der Mennonitin Janet Bauman Tissandier. Original in Englisch gibt es das Lied auch in Französisch. Einen deutschsprachigen, singbaren Text habe ich nicht gefunden und so selbst gebastelt.

Ich schlage dir vor, dieses Lied für heute zu deinem Motto zu machen. Versuche es doch selbst auf deutsch zu singen! Hier gibt es die Melodie dazu, und um sich einzugewöhnen kannst du dir hier die englisch gesungene Version von Laura Beth Smith anhören.

Im Folgenden den deutsche Text: 

1. Ich gehe den Friedensweg. Ich gehe den Friedensweg. Ich gehe den Friedensweg. Führ' mich heim, führ' mich heim! 

2. Ich gehe ganz liebevoll. Ich gehe ganz liebevoll. Ich gehe ganz liebevoll. Führ' mich heim, führ' mich heim! 

3. Ich gehe den Gnadenweg. Ich gehe den Gnadenweg. Ich gehe den Gnadenweg. Führ' mich heim, führ' mich heim! 

4. Ich gehe den Hoffnungsweg. Ich gehe den Hoffnungsweg. Ich gehe den Hoffnungsweg. Führ' mich heim, führ' mich heim! 

5. Ich gehe voll Freud und Glück. Ich gehe voll Freud und Glück. Ich gehe voll Freud und Glück. Führ' mich heim, führ' mich heim! 

6. Ich gehe den Herzschlagweg. Ich gehe den Herzschlagweg. Ich gehe den Herzschlagweg. Führ' mich heim, führ' mich heim! Ich bin daheim.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde 

Samstag, 25. Februar 2023

Abschied voll Hoffnung

Ein Zitat

Die Trauergemeinde auf dem Weg von Peter Freis Urnengrab zur Kirche Oberkirch in Frauenfeld.
Foto © Jörg Niederer
"Mein Gott ist langsam zum Zorn, wenn ich in die Irre gehe. Lobe den Herrn, meine Seele." Aus dem Lied "Bless the Lord o my soul"

Ein Bibelvers - Psalm 103,2

"Liebe den HERRN, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!"

Eine Anregung

Es ist noch kein Jahr her, als Peter Frei seine Fotografien in der Methodistenkirche St. Gallen ausstellte und zusammen mit Tochter Sabina Stoller-Frei musikalisch zum Gottesdienst beitrug. Gestern nun war seine Beisetzungsfeier auf dem Friedhof Oberkirch in Frauenfeld. 

Gut 180 Menschen fanden sich ums Grab und in der Kirche ein. Auch ich sass da, hörte zu, war berührt von all den Beiträgen musikalischer und gesprochener Art. Der Lebenslauf ist dabei jeweils ein Höhepunkt. Vorgetragen von Tochter Stephanie und Sohn Pascal wurde ein bewegtes und bewegendes Leben sichtbar. Darin tauchte bei einer für die christliche Sozialisation entscheidenden Situation unvermittelt ein mir sehr bekannter Name auf. Dort in der Kirche erfuhr ich, wie mein Praktikantenvater Robi Frischknecht , Missionar in Südamerika und Methodistenpfarrer, grundlegend dazu beigetragen hatte, dass Peter Frei das Vertrauen in Gott fassen konnte. Das war umso bemerkenswerter, als einige böse Stimmen meinten, Robi Frischknecht würde lieber Häuser bauen als die Gemeinde leiten und errichten.

Was war geschehen: Im Lebenslauf erzählt Peter Frei selbst. Ich übertrage das in Dialekt Geschriebene ins Hochdeutsche. "Damals kannte ich Ruth schon und begleitete sie immer einmal wieder in den Gottesdienst. In einer Predigt erwähnte Robi Frischknecht, er wolle die Fassade am Pfarrhaus machen (...) ob wohl jemand Freude daran hätte, ihm zu helfen. Weil gerade Ferien waren, sind wir ihm zur Hand gegangen. Stundenlang haben wir dabei diskutiert, und er hat mir alles [den Glauben] erklärt, auf so klare und so einfache Weise. In dieser Zeit – das hat wohl so drei bis vier Tage gedauert – kam ich zur Überzeugung, dass das stimmt [mit der Liebe von Gott]."

Wer sagt denn, dass nicht beides zusammen möglich ist: Häuser errichten und Menschen dabei begleiten auf dem Weg zu einem lebenslang tragenden Vertrauen in Christus?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Freitag, 24. Februar 2023

Ein Jahr des verpassten Friedens

Ein Zitat

Friedenspfahl vor dem einstigen Kloster Allerheiligen in Schaffhausen.
Foto © Jörg Niederer
"Wir bitten dich für die Feinde des Friedens und für diejenigen, die den Unschuldigen Schaden zufügen wollen: Wende die Herzen aller der Güte und Freundschaft zu." Aus der Friedensliturgie zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Ein Bibelvers - Jesaja 57,19-21

"Als Schöpfer sorge ich dafür, dass die Trauernden Loblieder auf den Lippen haben. Frieden, Frieden den Fernen und den Nahen. Ich will sie heilen, sagt der Herr. Aber die Frevler sind wie das aufgepeitschte Meer. Es kommt nie zur Ruhe, sein Wasser wühlt Schlamm und Dreck auf. Für die Frevler gibt es keinen Frieden! Das sagt mein Gott."

Eine Anregung

Heute jährt sich der Krieg russischer Streitkräfte gegen die Ukraine. Noch ist weit und breit kein Ende des Tötens abzusehen. Die Sehnsucht nach Frieden ist gross im überfallenen Land, genauso wie an jedem Ort, an dem die Waffen sprechen.

Unlängst kam ich an einem weiteren Friedenspfahl vorbei, nachdem ich diesen Stelen ein erstes Mal in Ascona auf dem Monte Verità begegnet war. Der fotografierte Pfahl steht in Schaffhausen vor dem ehemaligen Kloster Allerheiligen.

Die Kirchen der Schweiz rufen heute auf zu einem nationalen Gebet für den Frieden um 16.00 Uhr im Berner Münster.

Wer nicht so weit reisen möchte, ist etwa in St. Gallen zu folgenden beiden Anlässen eingeladen: Gemeinsam beten Gläubige heute Mittag um fünf nach Zwölf in der Stadtkirche St. Laurenzen für den Frieden. Abends um 18.15 Uhr predigt der ukrainische Bischof Bohdan Dzyurakh im Gottesdienst in der Kathedrale.

In Weinfelden findet das ökumenische Friedensgebet um 18.00 Uhr auf dem Pestalozzi-Schulhausplatz statt.

"Möge Frieden auf Erden sein" steht auf dem Friedenpfahl in Schaffhausen. Möge auch bald Frieden in der Ukraine und in allen anderen Krisenregionen sein.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Donnerstag, 23. Februar 2023

Trostlos

Ein Zitat

Schlick und Unrat sammelt sich in der Ecke eines Kleinkraftwerks der Murg.
Foto © Jörg Niederer
"Die größten Menschen sind jene, die anderen Hoffnung geben können." Jean Jaurès (1859-1913)

Ein Bibelvers - Psalm 31,10

"Hab Erbarmen mit mir, Herr! Denn mir ist angst und bange. Mein Leben verschwimmt mir vor Augen, mein Leid durchdringt Seele und Leib."

Eine Anregung

Im Kleinkraftwerk an der Murg sammeln sich in einer Ecke lauter Unrat, Schlick und kleine Federchen. Zwei Wanderschuhe dümpeln Sohle aufwärts vor sich hin. Dort ist das Foto entstanden. Schreiben wollte ich dazu, dass auch in den trübsten Brühen viel Farbe und Struktur zu finden sind, man müsse dies nur sehen wollen. Mit der Bildbearbeitung machte ich mich auf die Spur nach der verborgenen Schönheit. 

Doch dann überfällt mich früh am Morgen Schrecken; die Farben werden bedeutungslos. Ein Mensch ist diese Nacht – für mich unerwartet – gestorben, einer, den ich seit seiner Geburt kenne. Er ist gegangen, einfach so, hat seinen Partner weinend zurückgelassen. Ein Sohn ist gestorben, noch vor seiner Mutter, ein Bruder, noch vor dem Erstgeborenen. Zu früh ist er gegangen, "aus dem Arbeitsleben gerissen", wie man so sagt.

Nun dümple ich dahin, wie die kleine weisse Feder im Sumpf. Emotionen, Wut und Hilflosigkeit halten mich fest, lassen nicht los. Das darf nicht sein, denke ich. Das darf nicht sein.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Mittwoch, 22. Februar 2023

Unwirtlich wirtlich

Ein Zitat

Fallätsche-Erosionsgebiet in der Albiskette mit Zürichsee und Alpen
Foto © Jörg Niederer
"Der Alpenromantik verfallen, bauten verschiedene kleinere Alpenclubs Anfangs 20. Jhd. eine Reihe von Clubhütten. So entstand 1909 auch das heutige Teehüsli Fallätsche. Weitere Hütten in der Fallätsche sind die Bristenhütte, die Felsenkammer und die Glecksteinhütte." Webseite vom Teehüsli Fallätsche

Ein Bibelvers - Jesaja 54,10

"Berge können von der Stelle weichen und Hügel ins Wanken geraten. Aber meine Liebe weicht nicht von dir und mein Friedensbund wankt nicht. Das sagt der Herr, der Erbarmen mit dir hat."

Eine Anregung

Hochalpine Pfade finden sich unweit Zürichs in einem Erosionstrichter. Fallätsche wird dieser unwirtliche Ort genannt, der immer wieder Wanderer und Bergsteiger in missliche Lage bringt.

Fallätsche, das klingt nach Walliserdeutsch, passt nicht so recht zur grössten Stadt der Schweiz. Woher der Name kommt, ist nicht ganz sicher. Wikipedia nennt dazu zwei mögliche Ableitungen: "von falaise (franz.: Steilküste) oder valláccia (galloromanisch: talartiger Einschnitt)".

Schuld an der Erosion war der Rütschlibach oberhalb von Leimbach, der bei starken Niederschlägen das weiche Mergelgestein destabilisierte und immer wieder Bergstürze auslöste. So blieb der Trichter lange Zeit in steter Bewegung und folglich weitgehend baumlos. Eine einzigartige Fauna und Flora konnte sich entwickeln, darunter Pflanzen und Tiere, die sich sonst nur in höheren Lagen der Alpen wohl fühlen.

Heute ist das Gebiet streng geschützt. Der Rütschlibach wurde künstlich stabilisiert. Die Steinschläge und Erdrutsche wurden weniger, Bäume konnten sich ansiedeln. Kling gut, oder? Ist es aber nur zum Teil. Denn durch die Bäume verändert sich die Landschaft zu Ungunsten der natürlichen Vielfalt. Es braucht pflegende (baumfällende) Eingriffe, damit es dort bei Zürich an diesem unwirtlichen Ort weiter wirtlich zu- und hergehen kann für die seltenen und geschützten Pflanzen und Tiere.

Es ist ja schon interessant: Nur weil dieser Ort in ständiger Bewegung ist, bietet er eine besonders grosse Artenvielfalt. Vielleicht ist das ein Gleichnis auf die Kirche: Erst eine sich ständig wandelnde Kirche kann ein Ort bleiben, an dem viele verschiedene Menschen eine geistliche Heimat finden können.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Dienstag, 21. Februar 2023

Zweimal den Kopf verloren

Ein Zitat

Die sterblichen Überreste des Heiligen Pankratius in der Stadtkirche St. Nikolaus
Foto © Jörg Niederer
"Nach dem Tod des Onkels wurde Pankratius von einem der Verfolgungsbefehle Kaiser Diokletians erfasst und vor den Kaiser in den Kaiserpalast auf dem Palatin gebracht. Der 14-jährige ließ sich trotz aller Verlockungen nicht vom Glauben abbringen, deshalb wurde er öffentlich vor dem Stadttor der Via Aurelia enthauptet..." Aus dem Heiligenlexikon

Ein Bibelvers - Sprüche 3,3+4

"Liebe und Treue werden dir nicht fehlen. Binde meine Weisung und meine Gebote um deinen Hals! Schreib sie auf die Tafel, die du im Herzen trägst! Dann findest du Zustimmung und Anerkennung bei Gott und bei den Menschen."

Eine Anregung

Heute fand die Pfarrkleingruppen-Sitzung in Wil statt bei meinem Kollegen Chris, der direkt unterhalb der Stadtkirche St. Nikolaus wohnt. Und so besuchte ich anschliessend dort den dritten Stadtheiligen St. Pankrazius (nebst St. Agatha und St. Nikolaus). Dabei handelt es sich um einen Katakombenheiligen aus Rom, der im Jahr 1671 mit 29 weiteren Gebeinen von Papst Clemens X. dem Fürstabt Gallus Alt geschenkt wurde. Im Kloster Notkersegg bei St. Gallen wurden die Gebeine gefasst, kamen dann ich die Schlosskapelle Schwarzenbach, von wo 1672 der Hl. Pankratius in grosser Prozession feierlich nach Wil überführt wurde. Beim Heiligen soll es sich um den Sohn eines reichen Römers in der Türkei handeln, der 290 geboren wurde und ab 303 in Rom lebte. Dort hätte er am Hof des Kaisers Karriere machen können, unter der Vorgabe, dem christlichen Glauben abzuschwören, was er nicht tat. So wurde er 304 als Märtyrer hingerichtet.

1678 hielt der Stadtschreiber Johann Ludwig Müller zum neuen Heiligen in Wil fest: "Gut Ding muss Wyl haben." Tatsächlich beförderte Pankratius in Wil die Wallfahrt in die Stadt viele Jahre lang, was sich finanziell auszahlte. In jeder Zeit gab es Pankratius-Wein zu trinken und zu kaufen. In diesen Wein war zuvor ein Zahn des Pankratius eingetaucht worden, was ihn besonders heilsam gemacht haben soll.

Nun, der Zahn der Zeit nagte auch an Pankratius, und so kamen Zweifel auf, ob der Katakombenheilige wirklich der echte Heilige aus dem 3. Jahrhundert sei. Auszuschliessen ist es nicht.

Noch etwas geschah dem Heiligen in den Neunzigerjahren. Damals verlor er den Kopf zum zweiten Mal. Dieser wurde ihm entwendet, wozu, weiss niemand. Zurück fand er einige Monate später in einem Plastiksack, der an der Türfalle des Pfarrhauses hing.

Nun steht Pankratius mit theatralischem Fingerzeig in seiner vom Augsburger Goldschmied Joseph Anton Seethaler geschaffenen römischen Legionärsrüstung in einem Seitenaltar der Stadtkirche und geniesst wohl seine vorläufig letzte Ruhe.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Montag, 20. Februar 2023

Süsser die Glocken nie klingen...

Ein Zitat

Im Glockenturm der Kathedrale St. Gallen.
Foto © Jörg Niederer
"Jede Glocke hat ihren Klöppel." Deutsches Sprichwort

Ein Bibelvers - 1. Korinther 13,1

"Ich kann die Sprachen der Menschen sprechen und sogar die Sprachen der Engel. Wenn ich keine Liebe habe, bin ich wie ein dröhnender Gong oder ein schepperndes Becken."

Eine Anregung

Viele Kapellen und Kirchen der Schweiz werden umgenutzt. Siehe dazu den Beitrag vom 18. Februar. Auch der Glockenschlag von Kirchen steht unter Druck. Es kommt immer wieder vor, dass sich Anwohnerinnen und Anwohner beklagen, besonders dann, wenn auch in der Nacht die Zeit mit Glockenschlag angezeigt wird. Ich bin nahe an einer Kirche mit (auch nächtlichem) Viertelstundenschlag aufgewachsen. Hätten sie nicht mehr geschlagen, ich hätte den vertrauten Klang vermisst. 

In St. Gallen hat mit der Reformierten Kirche Heiligkreuz die letzte in der Kirchgemeinde Tablat-St. Gallen mit dem Glockenschlag in der Nacht aufgehört.

Das St. Galler Tagblatt erstellte kürzlich eine Übersicht, wie mit den Glockenschlag in der Stadt umgegangen wird. In zehn Kapellen und Kirchen schlagen die Glocken gar nicht mehr. In sieben Gotteshäusern erklingen nur tagsüber die Kirchenglocken. Aus weiteren 10 Kirchen und Kapellen ertönen die Glocken am Tag und in der Nacht. Sieben davon sind Römisch-katholische, die anderen drei Reformierte Kirchen. Zu nennen wären da etwa die Kathedrale, die Reformierte Kirche St. Laurenzen, die Wallfahrtskirche Heiligkreuz, die Katholische Kirche St. Fiden und die reformierten Kirche St. Mangen.

Wie wirkt auf dich der Glockenschlag? Sind es süsse Klänge, oder schlafraubende Donnerschläge?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Sonntag, 19. Februar 2023

Die theologische Bedeutung der Stube

Ein Zitat

Pilgerstube in St. Gallen.
Foto © Jörg Niederer
"In der Ruhe liegt die Kraft." Redensart

Ein Bibelvers - Psalm 27,4

"Ich hatte eine einzige Bitte an den Herrn. Nichts anderes wünsche ich mir: Ich möchte im Haus des Herrn sein alle Tage meines Lebens. Ich möchte die Schönheit des Herrn schauen und sie im Inneren seines Tempels betrachten."

Eine Anregung

Die Stube oder das Wohnzimmer steht für Erholung und freie Zeit. In der Stube kann ich in vertrauter Atmosphäre "auftanken". In der Stube kann ich tun und lassen, was ich will. Die Stube ist ein Freiraum, wie der Sonntag auch, der Ruhetag.

Von der Stube und ihrer theologischen Bedeutung erfährt man in der heutigen Predigt mehr, um 09.15 Uhr im Alters- und Pflegeheim Unteres Gremm in Teufen und um 10.15 Uhr in der Methodistenkirche an der Kapellenstrasse 6 in St. Gallen.

Es findet keine Übertragung der Predigt auf Youtube statt. Aber sowohl in Teufen wie auch in St. Gallen sind alle herzlich eingeladen, dem Gottesdienst beizuwohnen; fast wie in einer guten Stube.

An diesem Sonntag wird eine Kollekte für die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei erhoben.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Samstag, 18. Februar 2023

Alkoholverkauf in Kirche

Ein Zitat

Die einstige Kapelle der Evangelisch-methodistischen Kirche in Schmiedrued AG (oben)
Foto © Jörg Niederer
"Allein in den Niederlanden wurden bereits über 2000 Kirchen umgenutzt oder verkauft." Aus einem Beitrag von ref.ch

Ein Bibelvers - Markus 1,21

"Jesus und seine Jünger kamen nach Kapernaum. Gleich am Sabbat ging Jesus in die Synagoge und lehrte."

Eine Anregung

Mit der zunehmenden Mobilität, aber noch mehr durch die zunehmende Entkirchlichung der Gesellschaft werden viele Gotteshäuser unrentabel und stehen zum Verkauf. Es stellt sich die Frage, was aus diesen Gebäuden werden soll. In einem Onlinebeitrag der Reformierten werden einige besonders kuriose oder bemerkenswerte Umnutzungen vorgestellt. Gasthäuser finden sich darunter, aber auch eine Bibliothek, ein Tanzclub oder eine Skateranlage. Ebenfalls erwähnt wird eine einstige Methodistenkirche im südenglischen Westbourne. Eine Supermarktkette führt darin nun ein Verkaufslokal. In der örtlichen Zeitung "Daily Echo" stand dazu: "John Wesley, der Begründer des Abstinenzler-Methodismus, dürfte sich im Grab umdrehen, wenn er bemerkt, dass nun in der ehemaligen methodistischen Kirche Alkohol verkauft wird." 

Zur Umnutzung von Kirchen in der Schweiz gibt es eine Datenbank der UNI Bern. In dieser sind auch zahlreiche methodistische Gotteshäuser aus der Schweiz erfasst. Allerdings sind viele Einträge nicht mehr aktuell und die Auswahl der erfassten Gotteshäuser ist recht lückenhaft.

Einige Beispiele von ungenutzten Kapellen, die nicht in der Datenbank zu finden sind: Es fehlt die Hölzlikapelle Rothrist (AG) (dort haben meine Frau und ich geheiratet). Heute ist sie eine private Loftwohnung. Genauso wurden auch die Kapellen in Teufen (AR), in Gontenschwil (AG) und in Mühlethal (AG) zu Wohnungen umgestaltet. Die methodistische Kapelle in Schmiedrued wurde von einem Harmoniensammler erworben. Eigentlich wollte er nur die 4-5 Harmonien kaufen, die sich dort angesammelt hatten. Doch dann erstand er gleich auch noch die Kapelle dazu, um daraus ein Harmonien-Museum zu machen. Das jedenfalls war die Absicht. Ob etwas daraus geworden ist, weiss ich nicht.

Für die Stadt St. Gallen finden sich fünf Einträge, darunter das Kloster St. Katharina und die Kirchen St. Leonhard und St. Mangen.

Wie ungenau die Daten sind, zeigt etwa der Eintrag zur methodistischen Friedenskirche in Bäretswil. Die Datenbank spricht vom Abriss der Kapelle. Doch genau das ist nicht geschehen. Aus Denkmalschutzgründen und bedingt durch die Statik wurde lediglich eine vorsichtige Umgestaltung der Innenräume verwirklicht,  und ein moderner Anbau dazu realisiert.

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf die Einträge dieser Datenbank. Auf diesem Weg erfuhr ich, dass die ehemaligen Neuapostolischen Kirche in St. Gallen heute als Schulhaus der "Freien Stadtschulen AG" genutzt wird.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Freitag, 17. Februar 2023

Die einzig echte Weltverschwörung

Ein Zitat

Hausspatzen sind überall. Hier in Zürich bewachen sie alle Schlüsselstellen der Macht.
Foto © Jörg Niederer
"Alle Berufe sind Verschwörungen gegen die Laien." George Bernard Shaw (1856-1950)

Ein Bibelvers - Matthäus 10,29

"Kann man nicht zwei Spatzen für eine Kupfermünze kaufen? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde, ohne dass euer Vater es zulässt."

Eine Anregung

Sie passen wunderbar in die Fastnachtszeit. Die Verschwörungsgläubigen, welche vor einigen Tagen in der Stadt St. Gallen auf den Spuren der Echsenmenschen waren.

Verschwörungen gibt es. Der Rütlischwur war zum Beispiel eine Verschwörung. Aber wer denkt, es gäbe Pharaonen-Echsen-Aliens, welche die Welt heimlich beherrschen, hat sich ganz schön verrannt. Solche Gestalten würden ja viel zu sehr auffallen. Nein, es ist viel perfider. Die Weltbeherrscher, das sind ganz unscheinbare Wesen, solche, die wir nie in Verdacht hätten. Ich weiss es, weil ich sie kenne. Es sind die Spatzen. Genauer: Die Haussperlinge. Sie sind überall und sie beobachten uns. Wir sind vor ihnen nicht sicher. Und wir entkommen ihnen bestimmt nicht. In ihren Knopfaugen sind kleine Videokameras versteckt. Alles, was wir tun, wird aufgezeichnet, und dann durch die Luft übertragen zu einem Heer von Weltraumspatzen, welche die Aufnahmen ausgewertet. Dann irgendeinmal wird es soweit sein. Dann zeigen diese vermeintlichen Vögelchen ihre wahre Fratze, dann werden sie die Weltherrschaft antreten, uns Menschen aus den Häusern vertreiben und in der Küche alles versch... – nein, nicht das was du jetzt denkst, im meinte "verschmutzen". Es ist übrigens noch schlimmer. Zwischenzeitlich haben diese Weltherrschaftsspatzen die Tauben zu ferngesteuerten Zombies gemacht. Darum sind immer auch Spatzen in der Nähe der Stadttauben.

Wir haben keine Chance mehr. Wir Menschen gehen unter, weil es die Spatzen so wollen. Du glaubst das alles nicht? Typisch. Die Wirklichkeit ist immer so unglaublich, dass man sie nicht wahrhaben will.

Tatsächlich ist das mit der Weltherrschaft der Spatzen natürlich totaler Unsinn. Und wäre es anders, wir würden dennoch die Ansicht vertreten, dass die Weltherrschaft der Spatzen totaler Unsinn sei. Also bitte das alles nicht weitererzählen. Ich wollte nur auch einmal eine Verschwörungstheorie aufstellen. (Das würde ich jetzt natürlich auch sagen, wenn ich mit den Weltherrschafts-Spatzen unter einer Decke stecken würde, was ich aber nicht tue, GANZ SICHER!)

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Donnerstag, 16. Februar 2023

Immer nur loben und danken

Ein Zitat

Seniorinnen aus der Methodistenkirche lassen sich von Frau Patricia Guggenheim in den jüdischen Glauben und die Architektur der Synagoge von St. Gallen einführen.
Foto © Jörg Niederer
"Ich bin ein Gläubiger, der mit Gott ringt, wie Jakob in der Nacht, und wird angegriffen von einer Gestalt und ringt mit dieser Gestalt und wird verletzt, er hinkt danach. Ich hinke auch in meinem Glauben. Ich liebe die Atheisten, weil die wirklich mit Gott ringen. Die, die so sicher sind, da habe ich manchmal meine Bedenken." Tovia Ben-Chorin, verstorbener Rabbiner von St. Gallen

Ein Bibelvers - 2. Mose 3,13+14

"Mose antwortete Gott: 'Ich werde zu den Israeliten gehen und ihnen sagen: Der Gott eurer Väter schickt mich zu euch. Was ist, wenn sie mich fragen: Wie heißt er? Was soll ich ihnen dann sagen?' Da sprach Gott zu Mose: 'Ich werde sein, der ich sein werde'. Das sollst du den Israeliten sagen: Der 'Ich-werde-sein' hat mich zu euch geschickt."

Eine Anregung

Die Synagoge in St. Gallen gehört zu den schönsten in der Bodenseeregion. Am Dienstag besuchten rund 30 Seniorinnen und Senioren aus den methodistischen Kirchen von Romanshorn, Weinfelden und St. Gallen das jüdische Gotteshaus und liessen sich auf Frau Patricia Guggenheims Ausführungen zur Architektur des 1881 erbauten Hauses und zum jüdischen Glauben ein. Daraus nur zwei Dinge, die mir besonders aufgefallen sind.

Frau Guggenheim teilte in humorvoller Weise mit, dass in den Sabbatfeiern in den Synagogen keine Bitten an Gott gerichtet werden. "An diesem Tag hat Gott frei", meinte sie, und fügte augenzwinkernd an: "Darum wird bei uns in den Versammlungen immer nur gelobt und gedankt".

Für viele erstaunlich war auch die starke Diesseitigkeit des jüdischen Glaubens. Patricia Guggenheim: "Der Glaube an einen Himmel macht bei uns nur so wenig aus" (sie bildete dabei mit Daumen und Zeigefinger einen Abstand von etwa 4 Zentimetern). Dann meinte sie: Es ist ja auch nicht verwunderlich, dass das Jenseitige so wenig Bedeutung hat. Wir Juden wissen ja nicht einmal wie Gottes Name lautet.

Gott, so Frau Guggenheim, sei als Kontinuum zu verstehen, als der, welcher war, welcher ist und welcher sein wird. Als solcher sei Gott in allem gegenwärtig, das uns begegnet.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Mittwoch, 15. Februar 2023

Eine Nacht allein beim lieben Gott

Ein Zitat

Im Münster zum Allerheiligen in Schaffhausen
Foto © Jörg Niederer
"Bei jeder Bewegung löst sich mein Schatten mehr von mir ab, tanzt mir voraus, zieht, zerrt, und klappt schliesslich in sich zusammen." Susanne Leuenberger über ihre Nacht allein im Zürcher Grossmünster.

Ein Bibelvers - Apostelgeschichte 16,26

"Samuel aber legte sich im Tempel des Herrn hin, wo die Lade Gottes stand. Die Lampe Gottes brannte noch."

Eine Anregung

Eine Nacht allein im Museum, eine Nacht allen im Zoo, eine Nacht allein im Spukschloss, eine Nacht allein auf dem Friedhof, eine Nacht allein im Gefängnis, eine Nacht allein in der Steinzeithöhle, eine Nacht allein auf der Bahnhofsbank, eine Nacht allein auf dem Aussichtsturm; touristisch liesse sich so mancher Ort gut vermarkten. 

Warum also nicht auch eine Nacht allein in einer Kirche, einer Kapelle, einem Dom. Susanne Leuenberger tat genau das. Sie verbrachte eine Nacht im Grossmünster von Zürich, am Wirkort von Reformator Zwingli. Nur mit Offenheit und Schlafsack ausgerüstet hat sie sich in dieses Abenteuer gewagt, hat da geträumt, wo seit hunderten von Jahren Menschen ihre letzte Ruhe gefunden haben.

Schläft man gut in Kirchen. Während Predigten kann das ja durchaus sein. Aber ganz allein in diesen riesigen Gewölben? Es wäre auszuprobieren. Wie übernachtet es sich in der Galluskrypta? Wie schläft es sich bei Anselm in der Kathedrale von Canterbury? Wie träumt man in den Sakralräumen der Chapelle du Valentin in Lausanne, der ältesten Methodistenkirche in der Schweiz?

Natürlich könnte man diese Geschäftsidee noch aufwerten, etwa durch das Sammeln von einsamen Nächten in Kirchen, festgehalten auf Trophy-Sammelkarten.

Also ich hätte schon Lust zu solch spirituellen Nächten in ausgesuchten Kirchen. Ob mich das allerdings auch zu einem besseren Menschen machen würde? Ob ich dann Gott besser hören könnte? Wer weiss?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Montag, 13. Februar 2023

Möwe fotografiert, Bildband erhalten

Ein Zitat

"AVES VÖGEL Charakterköpfe" ist ein aussergewöhnliches Buch mit Fotos von Tom Krausz und Texten von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni.
Foto © Jörg Niederer
"Unsere Tierliebe gilt heute den Individuen; aber darauf können wir uns nichts einbilden, das geschieht aus der Not." Professor Dietmar Schmidt in: Tom Krausz, Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni, "AVES VÖGEL Charakterköpfe", München und Hamburg 2020, S. 15

Ein Bibelvers - 1. Mose 2,19+20a

"Gott der Herr formte aus dem Erdboden alle Tiere auf dem Feld und alle Vögel am Himmel. Dann brachte er sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde. Jedes Lebewesen sollte so heißen, wie der Mensch es nannte. Also gab der Mensch ihnen Namen..."

Eine Anregung

Weil ich unter den vielen tausend Lachmöwen die eine entscheidende fotografierte, wurde mir als Preis ein besonders schönes Buch überreicht. Ich hatte also Glück, dass ich genau den richtigen Vogel ablichtete. Einmalig war dieser Moment auch weil ich dort in Zürich an der Sihl wohl kaum wieder sagen könnte, welche Lachmöwe es gewesen war, die mir nun Lese- und Sehvergnügen bereitet mit einem Buch, in dem zwar viele Vögel vorkommen, aber keine Lachmöwen. 

Gut, auch mit dieser Möwe hätte es nicht eine solche Wendung genommen, wäre sie nicht just im rechten Moment auf dem Kopf eines Mannes gestanden. Es wäre wohl auch anders herausgekommen, hätte dieser Kopf nicht einem bekannten Journalisten und Buchautor gehört, einem überaus kreativen Vogelliebhaber. Nichts wäre aus dem Buch geworden, wäre das Foto von Urs Heinz Aerni – so heisst dieser Journalist – mit der Möwe auf dem Kopf nicht in einer grossen Zürcher Zeitung erschienen, was wiederum eine kleine Kettenreaktion an Verdankungen auslöste, beim Journalisten mit Wein und bei mir mit dem Bildband von Portraits gefiederter Charakterköpfen. 

Ich bin fasziniert von Tom Krausz' Fotografien. Geniale Tiere, genial festgehalten. Physiognomien, Gesichtszüge von grosser Eindringlichkeit, nicht farbig schrill wie ein Teil der Vogelwelt, sondern in klassischem Schwarzweiss, so dass die Formen, der Blick, die Strukturen offensichtlich Verborgenes erkennbar hervortreten lassen. Zu jedem abgebildete Vogel gibt es Texte von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni. Diese haben es in sich, es geht augenzwinkernd und philosophisch zu, Schwarzweiss gedruckt und doch weit mehr als Licht und Schatten. 

Dann wäre da noch auf einer der ersten Seiten diese Buches ein biblischer Bezug in den Gedanken von Professor Dietmar Schmidt zu entdecken. Er schreibt vom "adamitischem Reflex". Gemeint ist die "...Szene, in der Adam, der erste Mensch, die Tiere um sich versammelt, um ihnen Namen zu geben - und um im Akt der Benennung seine Herrschaft über das Tierreich zu proklamieren".

Wir Menschen haben einen Drang, alles zu ordnen und zu benennen. Auch einige Vögel, die Raben etwa, können in ihrer Sprache uns Menschen als Gattung von andern Tieren unterscheiden. Selbst zwischen Mensch und Mensch differenzieren sie, erkennen Gesichter, ordnen den Individuen Eigenschaften zu. "Sie sehen uns an..." schreibt Elke Heidenreich als Allererstes im Buch.

Individualisierung: In einer Mail habe ich Urs Heinz Aerni gefragt, ob die Möwe ihn schon vor dem Foto gekannt habe. Er antwortete (augenzwinkernd?): "...ja, der Vogel heißt Eduard".

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Solidarität mit den Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei

Ein Zitat

Muslimischer Friedhof in der Türkei
Foto © Jörg Niederer
Angesichts der Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei rufen wir mit Dr. Jerry Pillay, Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen dazu auf, "inmitten des Todes und des Traumas den Gott des Lebens zu bitten, dass ER diejenigen tröstet, die ihre Angehörigen verloren haben, und denjenigen Kraft gibt, die sich an den Solidaritätsaktionen mit den Opfern beteiligen".

Ein Bibelvers - Apostelgeschichte 16,26

"Plötzlich gab es ein starkes Erdbeben, das die Fundamente des Gefängnisses erschütterte. Da sprangen alle Türen auf, und die Ketten fielen von den Gefangenen ab."

Eine Anregung

Die Kirchenleitung der Evangelisch-methodistischen Kirche in der Schweiz hat in diesen Tage dazu aufgerufen, eine Kollekte für die Opfer der Erdbebenkatastrophe in Syrien und der Türkei einzulegen. In St. Gallen und Weinfelden werden wir dies in den Gottesdiensten des nächsten Sonntags so tun.

Nach Syrien gibt es gute Verbindungen durch Connexio und das in der Schweiz lebende Pfarrehepaar Rami Ziadeh und Anna Shammas. Anna Shammas berichtet hier in einem kurzen Videobeitrag über die Situation vor Ort. Gespendet werden kann jederzeit auf der Webseite von Connexio.

Auch zum Gebet sind alle aufgefordert, etwa mit den folgenden Worten von Pfarrer Graham Thompson, Präsidenten der Methodistenkirche in Grossbritannien: 

"Gott der Zeit und des Raumes, wir rufen zu dir für deine Kinder - unsere Nachbarn - in der Südtürkei und in Nordsyrien, nach dem Erdbeben, das Tausende von Menschenleben vernichtet hat. Nur die Betroffenen und du wissen, wie es ist, ein solches Trauma mitten in der Nacht zu erleben.

Wir danken dir für die Hilfe, die bereits geleistet wird, und für die Hilfszusagen, die von vielen Nationen gemacht wurden.

Wir bitten dich, tröste alle, die in eingestürzten Gebäuden eingeschlossen sind; die geliebte Menschen verloren haben; die auf Nachrichten warten oder die sich durch die Trümmer wühlen, um andere zu retten.

Gewähre die Gabe der Hoffnung, damit diejenigen, die zwischen Leben und Tod schweben, gewiss werden, dass du bei ihnen bist und dass andere bereit sind, sie zu unterstützen, wenn sie eine Zukunft suchen, die die Erfahrungen von heute überwindet.

Wir bitten dich darum im Namen Jesu, der aus Liebe zu ihnen so viel ertragen hat.

Amen"

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde 

Sonntag, 12. Februar 2023

Durch die Tür

Ein Zitat

Kirchentür an der Wallfahrtskirche Maria Dreibrunnen in Bronschhofen.
Foto © Jörg Niederer
"Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann." Christian Morgenstern (1871-1914)

Ein Bibelvers - Johannes 10,9

Jesus "Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet. Er wird hinein- und hinausgehen und eine gute Weide finden."

Eine Anregung

Eine Tür ist das, was beim Betreten eines Gebäudes als Erstes ins Auge sticht.

Von Türen handelt die heutige Predigt in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen. Damit wird eine Reihe fortgesetzt, welche vor zwei Wochen mit Gedanken zum Esszimmer begonnen haben. Wie sieht ein Haus, eine Wohnung aus, in der die Prinzipien gelten, welche durch Jesus Christus bekannt sind?

Du bist herzlich eingeladen, die Tür an der Kapellenstrasse 6 zu durchschreiten, und am Gottesdienst mit Abendmahl über das Thema "Haustür" teilzunehmen. Der Anlass beginnt um 10.15 Uhr. Ab 10.30 Uhr kann die Predigt auch auf Youtube angesehen werden.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Samstag, 11. Februar 2023

Abschied und Erinnerung

Ein Zitat

Teil des Stammes einer 320-jährigen Stieleiche. Zu finden auf dem Cholfirst nahe Schaffhausen.
Foto © Jörg Niederer
"Zu fällen einen schönen Baum / braucht's eine halbe Stunde kaum. / Zu wachsen, bis man ihn bewundert, / braucht er, bedenk es, ein Jahrhundert." Eugen Roth (1895-1976)

Ein Bibelvers - Psalm 103,2

"Lobe den Herrn, meine Seele! Und vergiss nicht das Gute, das er für dich getan hat!"

Eine Anregung

Oben auf dem Cholfirst, dem Hügelzug, welcher sich von Schaffhausen nach Wildensbuch hinzieht, waren Waldarbeiter zugegen. Lärmende Motorsägen kündeten den Tod von Bäumen. Krachend knallten diese auf den Waldboden.

Was da umgetan wurde, hatte sein Nutzholzalter erreicht. Keiner dieser Bäume konnte aber auf so viele Jahre zurückblicken, wie ein Stieleiche, die vor ca. 380 Jahren in Marthalen einer Eichel entspross, und nicht mehr aufhörte zu wachsen, bis sie 1970 gefällt wurde. Ein Stück des Stammes liegt nun ausgestellt am Waldweg zwischen dem Fernsehturm und dem Hochwachtturm Wildensbuch. (Der Hügelzug weisst gleich drei Aussichttürme auf. Zu den beiden genannten hinzu kommt auch noch der Aussichtsturm Hörnli oberhalb von Uhwisen.) Ein Recke von einem Baum war das, gepflanzt kurz vor Ende des Dreissigjährigen Krieges (1618-1648). Nun ist er eine hölzerne Reliquie, Rest eines staunenswerten Grossereignisses. Auch wenn Bäume sehr alt werden können, ewig leben auch sie nicht. Irgendeinmal ist es zu Ende. 

Da oben beim Baumrelikt dachte ich an einen guten Bekannten, dessen Fotografien seit knapp einem Jahr bei uns in der Methodistenkirche St. Gallen hängen, der vor drei Tagen seinen irdischen Lauf im Alter von 70 Jahren beendet hatte. Ich bin traurig, das Peter Frei nun nicht mehr hier ist. Doch gut, dass er voll Hoffnung und überzeugt von der Liebe Gottes gehen durfte. 

Wir denken heute besonders an seine Familie und alle, die ihn vermissen. 

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Freitag, 10. Februar 2023

Vorurteile

Ein Zitat

Carl Roesch (1884-1979) aus Diessenhofen erstellte diese beiden Keramikportraits "Kopf eines Bauern" und "Kopf einer Bäuerin" im Jahr 1935.
Foto © Jörg Niederer
"Herr gib mir Geduld, aber bitte sofort." Aufschrift auf einer Bank in der Münsterkirche Schaffhausen

Ein Bibelvers - Römer 2,11

"Denn Gott richtet ohne Ansehen der Person."

Eine Anregung

Unter die Keramikportraits hat jemand die Namen "Abdi" und "Karuf" geschrieben. Namen, die in arabischen Ländern gebräuchlich sind. So sehen die Bäuerin und der Bauer auch aus. Fremde, Migranten, was weiss ich.

Doch die Keramikportraits sind nicht auf dem Balkan, nicht in Afrika oder Asien entstanden. Es sind wohl Personen aus dem Tessin, abgebildet im Jahr 1935 vom Künstler Carl Roesch (1884-1979) aus Diessenhofen. Entdecken kann man die beiden Werke im Durchgang zum Kräutergarten des Museums Allerheiligen in Schaffhausen. 

So leicht kann der äussere Eindruck gepaart mit Vorurteilen auf eine falsche Fährte führen.

Ich will heute allen Menschen, die ich treffe, unvoreingenommen begegnen. Ich werde keine Etiketten verteilen, niemanden schubladisieren. Genau das will ich - wenigsten versuchen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Donnerstag, 9. Februar 2023

Predigende Cowboys

Ein Zitat

Gemälde von John Wesley, wie es in der Zentralverwaltung der Evangelisch-methodistischen Kirche in Zürich hängt.
Foto © Jörg Niederer
"Herr, bewahre die Kirche davor, dass sie Kirchenbänke, Chöre, Orgeln oder Instrumentalmusik und ein Gemeindeamt haben will, wie andere weltlich gesinnte Kirchen um sie herum!" Peter Cartwright (1785-1872), berühmter methodistische Circuit Rider

Ein Bibelvers - Apostelgeschichte 13,4-6a

"Der Heilige Geist schickte Barnabas und Saulus auf den Weg. Sie reisten nach Seleukia. Von dort fuhren sie mit dem Schiff nach Zypern weiter. In Salamis angekommen, verkündeten sie das Wort Gottes in den jüdischen Synagogen. Als Helfer hatten sie noch Johannes bei sich. Dann reisten sie über die ganze Insel bis nach Paphos."

Eine Anregung

In der Zentralverwaltung der Evangelisch-methodistischen Kirche besteigt John Wesley schon seit Jahren ein Pferd. Jedes Mal, wenn ich an diesem Gemälde vorbei die Treppe hochsteige, denke ich, jetzt sollte er dann einmal oben ankommen, um dieser eher unbequemen Haltung zu entgehen.

Und nun auch noch das. Eine Frau erzählt mit Wesley-Perücke, Talar und Pferd von den Circuit-Ridern. Die Frau heisst Madeline White und ist verantwortlich für die Kommunikation der Jährlichen Konferenz von Virginia, USA.

Was sie in einem sehenswerten Videobeitrag erzählt, ist durchaus interessant. Es geht um die Zeit ab Ende des 17. Jahrhundert, als methodistische Prediger die USA auf dem Rücken der Pferde bereisten und die Menschen für Christus zu gewinnen versuchten.

So erfährt man im Video, dass das am Film beteiligte Pferd Jimmy heisst (Ich weiss, das ist nicht so wichtig aber nett). Weiter erklärt uns Madeline White, dass die Circuit Rider massgeblich dazu beigetragen haben, dass die Methodisten zur grössten Glaubensrichtung in den USA wurden. Circuits bestanden aus zwei oder mehr Kirchen, welche von den berittenen Pfarrern im Auftrag ihrer Kirche reihum jährlich besucht wurden. Dabei versuchten sie auch neue Gemeinden zu gründen, predigten im Freien oder auch in Privathäusern.

Zu sehen sind im Video historische Fotos von solchen Predigern. Viel Reisegepäck hatten diese nicht dabei, da sie sozusagen "auf den Pferden" lebten. Bibel, Gesangbuch und Gebetsbuch in "Taschenbuchversionen" waren aber immer mit dabei. Zudem erfuhren durch die Circuit Rider Menschen am Ende der neuen Welt, was alles auf der Erde und in ihrem Land geschah.

Heute gibt es die Circuits oder Bezirke immer noch, und sie werden noch immer von Pfarrpersonen bedient, die von Bischöfinnen und Bischöfen dorthin gesandt werden. Das dazu nötige Reisen geschieht natürlich nicht mehr auf Pferderücken.

Übrigens: John Wesley war vom Reiten sehr überzeugt. Als er gefragt wurde, ob er sich auch vorstellen könne, zu Fuss zu gehen statt zu reiten, meinte er kurz und knapp: "Nein".

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Mittwoch, 8. Februar 2023

Wutort Bahnhof

Ein Zitat

Der Bahnhof Stadelhofen ausserhalb der Berufsverkehr-Zeiten.
Foto © Jörg Niederer
"Das Ärgerliche am Ärger ist, dass man sich schadet, ohne anderen zu nützen." Kurt Tucholsky (1890-1935)

Ein Bibelvers - Matthäus 21,12

"In Jerusalem ging Jesus in den Tempel. Er jagte alle Leute hinaus, die im Tempel etwas verkauften oder kauften. Die Tische der Geldwechsler und die Stände der Taubenverkäufer stieß er um."

Eine Anregung

Der Ort, von dem die meisten aggressive Kurznachrichten (Tweets) abgesetzt werden, ist der Bahnhof. Auch auf Brücken und an Bushaltestellen neigen Menschen zu virtuellen Wutausbrüchen. Das ergab ein Forschungsprojekt des Kyoto Institute of Technology in den Städten London und San Francisco. Dass gerade Bahnhöfe und Busstationen Orte von Frust-Tweets sind, könnte mit Verspätungen von Zug, Tram und Bus zusammenhängen. Warum aber Brücken zu den Ärger-Hotspots gehören, ist weitgehend unklar.

Nun könnte dies in der Schweiz ja ganz anders sein. Vielleicht wüten bei uns die Menschen eher in grosser Höhe auf aperen Skipisten, oder in überfüllten Restaurants. Vielleicht kommen sie in Kirchen in Rage (das ist gar nicht so abwegig, ist doch Jesus selbst im Tempel besonders wütend geworden), beim Fahrradfahren, oder auf Autobahnen im Feierabendverkehr? Denn bei uns sind die öffentlichen Verkehrsmittel sauber und pünktlich (wenigstens pünktlicher als an den meisten anderen Orten auf der Welt). Folglich gibt es wenig Grund für getippte Wutausbrüche auf Bahnhöfen.

Wo gehst du mit deiner Wut hin? Gibt es Orte, wo dich der Frust garantiert überfällt und nicht mehr loslässt?

Aber auch: Wo bist du ganz und gar glücklich, ausgeglichen und in jeder Hinsicht dankbar?

Darüber denke ich heute einmal nach. Vielleicht besuche ich dazu einen Bahnhof... Dann höre ich mir wieder einmal das Mani-Matter-Lied von den Bahnhöfen an, an denen der Zug jeweils schon abgefahren ist.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde