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Dienstag, 26. März 2024

Verharmlosungen

Ein Zitat

Kruzifixe im Laden des Stephansdoms in Wien.
Foto © Jörg Niederer
"Gestern standen wir noch am Abgrund. Heute sind wir schon einen Schritt weiter." Quelle unbekannt

Ein Bibelvers - Johannes 11,49+50

"Zum jüdischen Rat gehörte auch Kaiphas, der in dem Jahr der Hohepriester war. Er sagte: 'Ihr versteht gar nichts! Ihr bedenkt auch nicht, dass es besser für euch ist, wenn ein Mann für das Volk stirbt – besser, als wenn das ganze Volk vernichtet wird.'"

Eine Anregung

Immer, wenn verharmlosende Worte verwendet werden, soll auch etwas verschleiert werden. Sehr schön ist das zu sehen bei den Berichten über die "proaktive" Wolfsjagd dieses Winters. Dabei bedeutet "proaktiv", dass man die Wölfe schiesst, obwohl die meisten von ihnen noch keinen Schaden an Nutztieren angerichtet haben. Auf diesem Weg versuchte die Jägerschaft ganze Rudel zu "entnehmen". Ein weiterer Euphemismus. "Entnehmen" bedeutet in diesem Fall "Totschiessen". Warum sagt man es dann nicht so, wie es ist? Aktuell zeigt sich, dass die Ausrottung von Rudeln in vielen Fällen nicht gelungen ist. Sogar Leitwölfe scheinen den Jägern entgangen zu sein. Auch mit dem Reden von "Leitwölfen" wird etwas verschleiert, nämlich dass es sich dabei um die Elterntiere handelt, die mit dem eigenen Nachwuchs ein Rudel bilden. Übrigens bedeutet "proaktiv" auch: Man kann uns wenigstens keine Untätigkeit vorwerfen.

Bei der Kreuzigung von Jesus – wir befinden uns ja in der Karwoche – war das wohl auch so. Auch da wurde "proaktiv" gehandelt, bevor "grösserer Schaden" hätte am ganzen Volk entstehen können. Auch da wurde ein "Opfer" gebracht, damit die Welt nicht "untergeht". Damit sind wir bei einem weiteren Merkmal der Verschleierung angekommen. Zum euphemistischen Reden hinzu tritt das Schwarzmalen. Die möglichen Folgen aus einer Untätigkeit werden dramatischer dargestellt, als sie zu erwarten sind. Dieses Gegenteil eines Euphemismus nennt man Dysphemismus.

Eine euphemistische Wirkung hat aber auch die tausendfache Wiederholung. Die unzähligen Kruzifixe und Kreuze im christlichen Umfeld führen in einen Gewöhnungsprozess, stumpfen ab. Der Schrecken der Kreuzigung, dieser sehr brutalen römischen Hinrichtungsart, dritt in den Hintergrund, wird gar zu einer Devotionalie, einem Gegenstand der Anbetung. Oder die Kruzifixe und Kreuzigungsbilder werden zu schönen Werken, werden ästhetische Kunst oder kitschige Karikatur, werden vergoldet und versilbert. Auch das ist eine Form des Ausweichsens, des Übertünchens, des Verschleierns.

Da stellt sich die Frage: Gelingt es mir, die Kreuzigung von Jesus als das zu sehen, was sie wirklich war? Gelingt es mir, diese von all der Weichwascherei zu befreien und ihr auf den kaum auszuhaltenden Grund zu gehen?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen