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Mittwoch, 29. November 2023

Melancholie

Ein Zitat

Morgenstimmung bei der Einmündung der Aare in den Rhein.
Foto © Jörg Niederer
"Ich sass auf einem Steine / und deckte Bein mit Beine, / Den Ellenbogen stützt ich auf / Und schmiegte in die Hand darauf / Das Kinn und eine Wange. / So grübelte ich lange: / Wozu auf Erden dient dies Leben? ..." Walther von der Vogelweide (um 1170-1230)

Ein Bibelvers - 1. Samuel 16,15+16

"Da sprachen Sauls Leute zu ihm: 'Du weisst, dass es ein böser Geist ist, durch den Gott deine Stimmung verfinstert. Unser Herr braucht nur etwas zu sagen, deine Knechte stehen bereit. Wenn du es willst, suchen wir einen Mann, der auf der Harfe spielen kann. Wenn dann der böse Geist Gottes über dich kommt, gleitet seine Hand über die Saiten. Und gleich wird es dir besser gehen.'"

Eine Anregung

Es sei die Krankheit der Mönche, hiess es im Mittelalter. Katholiken sahen darin zur Zeit der Gegenreformation die Krankheit der Protestanten. Luther selbst sei oft in tiefe Depression verfallen. Was die Melancholie mit Humor zu tun hat, erschliesst sich einem erst, wenn man sich bewusst macht, dass Humor im Lateinischen "Feuchtigkeit" bedeutet. Seit den alten Griechen bis zur Entdeckung des Blutkreislaufs im Jahr 1628 glaubten die Menschen, dass das Leben von viererlei Körpersäften, viererlei Humoren bestimmt werde. Ein Körpersaft davon sei die Schwarze Galle. Altgriechisch wird sie "Melancholia" genannt, was wörtlich "Schwarzgalligkeit" bedeutet. Ein Übermass dieses Körpersafts sei dafür verantwortlich, dass Menschen in Trübsal verfallen würden. Das wiederum, so die Gelehrten, habe verschiedene Ursachen. Rufus von Ephesos (80-150 n.Chr.) führte die Melancholie auf das ständige Nachdenken über Geometrie zurück. Auch der islamische Arzt Isḥāq ibn ʿImrān (gestorben um 901 n.Chr.) sah in der übertrieben praktizierten geistigen Arbeit die Ursache dieser Gemütskrankheit.

Theophrast (371-287 v.Chr.) jedoch konnte der Melancholie auch Positives abgewinnen. Sie sei die Voraussetzung für den "göttlichen Wahnsinn". Man könnte in diesem Zusammenhang auch von "göttlicher Genialität" sprechen. Genies müssen folglich irgendwie verrückt sein, melancholisch und depressiv.

Hier schliesst sich der melancholische Kreis. Mit dem "Göttlichen" finden wir uns wieder bei den Genies der Theologie und Kontemplation, bei den Mönchen und den protestantischen Theologen, allen voran Martin Luther.

Mir stellen sich dazu einige Fragen. Ziehen wir uns Melancholikerinnen und Melancholiker heran, wenn wir den Kindern Geometrie beibringen und sie zum Nachdenken motivieren? Muss, wer tiefsinniges Wissen über Gott ergründet, ein wenig wahnsinnig sein? Müsste Gott nicht selbst melancholisch werden ob all der frustrierten und Trübsal blasender Menschen auf der Erde? Ist Melancholie ansteckend oder vom Wetter abhängig?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen