Montag, 31. Juli 2023

Jesus: 'Kei Luscht!'

Ein Zitat

Werk 'Lassitude' von Floriane Tissières. Mischtechnik.
Foto © Jörg Niederer
"Floriane Tissières leistet in der modernen Kunst Erinnerungsarbeit, indem sie mit ihren Werken eine vergangene Welt heraufbeschwört." Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität Berlin

Ein Bibelvers - Psalm 121,4+5

"Sieh doch: Der über Israel wacht, der schläft und schlummert nicht. Der Herr wacht über dich. Der Herr ist dein Schutz, er spendet Schatten an deiner Seite."

Eine Anregung

An einem Regentag der vergangenen Woche besuchte ich die Stadt Leuk und dort das Beinhaus (Siehe Blogbeitrag vom 25. Juli 2023) und andere Besonderheiten. Natürlich verschlug es mich auch ins Schloss Leuk, ein genial von Mario Botta restauriertes, altes Gemäuer. In der dort gerade laufenden Ausstellung hat mich ein kleines Werk von der Künstlerin Floriane Tissières angesprochen. Die Frau mischt Altes und Neues auf überraschende Weise. 2002 waren ihre Werke Teil einer Ausstellung zum 1. August der Schweizer Botschaft in Berlin.

Das kleine Werk mit dem Titel "Lassitude" passt ganz gut zum Beitrag von Gestern. Zu sehen ist ein einfaches Kruzifix. Die Künstlerin hat nicht viel daran verändert. sie hat lediglich die Arme des Gekreuzigten vom Leib abgetrennt, mit den schwerkraftbedingt zu erwartenden Folgen. Auf dem Sockel der Installation steht das Wort "Lassitude".

Für dieses eine französische Wort gibt das Übersetzungsprogramm "DeepL" eine Vielzahl an deutschen Entsprechungen wieder. Hier die ganze Liste: Erschöpfung, Ermüdung, Überdruss, Langeweile, Lustlosigkeit, Lassen, Müdigkeit, Mutlosigkeit, Lebensmüdigkeit, Mattigkeit, Abstumpfung, Gelassenheit, Lebensüberdruss, Müssiggang, Abgespanntheit, Lassitude, Erschöpftheit, Abgestumpftheit, Abgeschlagenheit, Lebensmüde, Müssigkeit, Abgedroschenheit, Abgedrosselt.

Jedes dieser Worte könnte nun zu einer kleinen Predigt führen. Gestern schrieb ich, dass mit der Kreuzigung Jesu weitere Opfer ein Affront gegen Gottes Willen sind. Angesichts der in den letzten 2000 Jahren unglaublich hohen Zahl sinnlos geopferter Menschen, Naturräume, Tiere und Pflanzen, könnte ich verstehen, dass der Gekreuzigte seinen Halt verliert, dass sich "Erschöpfung", "Ermüdung" und "Überdruss" bei ihm einstellen. Haben wir wirklich verstanden, wenn wir wieder einmal vor einem Wegkreuz, oder in einer Kirche vor einem Kruzifix stehen? "Kei Luscht!", meinte einst ein Bundesrat. Mich würde nicht überraschen, wenn der Gekreuzigte in zunehmender Weise unter "Lustlosigkeit" leiden würde. (Was für ein skurriler Satz und Gedanke: "Kei Luscht" aufs Weiterleiden am Kreuz, für eine Menschheit, die das Leiden nicht beenden will.)

Dieses Werk von Floriane Tissières kann aber auch als Gleichnis für den Niedergang des Christentums in der westlichen Welt stehen. Unsere Gesellschaft ist "abgestumpft", kann die "abgedroschenen" Floskeln nicht mehr hören. Der eigentlich Sinn des Glaubens ist für viele nicht mehr ersichtlich. In ihren Augen hat der Heiland der Kirche den Halt am Kreuz verloren. Mehr und mehr Menschen setzen in der Steuererklärung bei der Frage nach der Konfession ihr Kreuz (!) neben "keine" oder "andere". Das ist die Realität. Dagegen möchte ich glauben, dass Gott sich weiter für uns Menschen interessiert, dass er unser nicht überdrüssig geworden ist, dass er die Lust nicht verloren hat, uns nahe zu bleiben, gerade auch im Leiden. Ich möchte glauben, dass er noch nicht "abgestumpft" vom Unsinn und Unfrieden sich einfach hängen lässt und sich lebensmüde aus unserem Alltag davonschleicht. Ich möchte glauben... und so übe ich den Glauben weiterhin.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Sonntag, 30. Juli 2023

Kreuzabnahme

Ein Zitat

An diesem Haus in Leukerbad hing einst ein Kreuz.
Foto © Jörg Niederer
"Ich finde ganz ohne Häme oder Ironie schön und gut, wenn sich Leute wegen ihrer religiösen Überzeugung positiv engagieren wollen. Ich kenne ja sogar einige ganz anständige römisch-katholische Priester. Die gibt es. Ich schwöre!" Valentin Abgottspon auf kath.ch

Ein Bibelvers - Hebräer 10,12

"Jesus Christus dagegen hat ein einziges Opfer für alle Sünden dargebracht. Danach hat er sich für immer an die rechte Seite Gottes gesetzt."

Eine Anregung

Das Kreuz hängt nicht mehr an der alten, von der Sonne malträtierten Holzwand des Walliser Hauses. Irgendjemand hat es aus irgendeinem Grund abgehängt. Kreuzabnahme im wörtlichen Sinn. Wird es gerade restauriert? Oder gehört das Haus neu einem oder einer Freidenkenden. Davon gibt es im Wallis auch einige Menschen. Berühmt ist etwa Valentin Abgottspon. Er hängte als Lehrer an einer Schule in Stalden das Kreuz im Klassenzimmer ab und wollte es nicht wieder anbringen. Weiter forderte er eine strikte Trennung von Kirche und Staat in der Kantonsverfassung und lancierte mit den Freidenkenden eine entsprechende Volkinitiative. Allerdings kamen im religiös katholisch geprägten Wallis nicht genügend Unterschriften zusammen.

Valentin Abgottspon hat zwar die Silbe "gott" im Familiennamen und trägt den Vornamen eines katholischen Heiligen, aber weder der Familienname noch der Vorname müssen zwingend mit dem christlichen Glauben verbunden sein. Valentin bedeutet "der Starke", und was es mit dem Nachnamen auf sich hat, kann unter diesem Beitrag von Radio SRF 1 angehört werden.

Zurück zur Kreuzabnahme: Das Kreuz, das einst an diesem alten Walliser Haus hing, war wohl ein Kruzifix, also eine plastische Darstellung vom leidenden und sterbenden Jesus am Kreuz. Mit dessen Abnahme wurde aus dem Kruzifix ein leeres Kreuz, so wie es wohl heute beim Gottesdienst in vielen evangelischen Kirchen vor Augen steht. Das leere Kreuz ist wie das Freidenkertum auch so eine Art Emanzipation, eine Neuinterpretation des eigenen Glaubens. Der Schwerpunkt der bildlichen Aussage wurde verschoben. Weg von der Marter, hin zur Erlösung. Weg von der Vorstellung eines ewig für die Sünderinnen und Sünder leidenden Gekreuzigten, hin zu einem "ein für allemal" (Hebräer 10,10). Es braucht nach Christus keine weiteren Opfer um eine Welt zu befrieden. Und das wiederum bedeutet: Es darf keine weiteren Opfer mehr geben. Das Kreuz, wenn es denn schon da ist, muss leer bleiben, als Mahnmal gegen jede Form von Gewalt und deren Zurschaustellung. Christus ist nicht zu ersetzen (Hier hat das Kruzifix wiederum seine Bedeutung!) oder durch weitere Quälereien zu überbieten. Alles Leid, was auf dieser Erde noch geschieht, ist eine Affront gegen Gott Willen. Das "Wort vom Kreuz" (1. Korinther 1,18) muss ein unüberhörbares Friedens- und Versöhnungsangebot sein und bleiben.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Samstag, 29. Juli 2023

Schwindelfrei

Ein Zitat

Selfie beim Wanderwegweiser Abzweigung Geissweg, oberhalb von Leukerbad.
Foto © Jörg Niederer
"Wenn ein Mensch schwindelt, ist das entweder Phantasie oder Strategie." Herkunft unbekannt

Ein Bibelvers - Sprüche 10,9

"Wer tadellos seinen Weg geht, lebt sicher. Wer krumme Wege geht, wird bald ertappt."

Eine Anregung

Ja das ist ein Selfie, aber darum geht es mir nicht. Ja, das in meinem Gesicht ist ein Zehntagebart, aber auch darum geht es mir nicht. Seit wir Ferien in Leukerbad machen, blicken wir zu einem Wegweiser am gegenüberliegenden Hang hoch. Gestern sind wir dorthin aufgestiegen und haben dieses Selfie mit besagtem Wegweiser gemacht. Meine Frau wäre auch noch auf dem Bild. Aber sie ist nicht so scharf auf Publizität, auch wenn sie deutlich mehr hergeben würde als ich.

Mir geht es also um den Wegweiser, und was da von dem Weg, der nicht mit einem Richtungspfeil angezeigt wird, deutsch und deutlich (und französisch) geschrieben steht: "Nur für Schwindelfreie. Gutes Schuhwerk unerlässlich."

Dass die gleiche Warnung dann auch am anderen Ende des besagten Geisswegs zu finden war, zeigte uns spätestens da auf, dass es bei dieser Warnung nicht um die zwei anderen Wegalternativen gegangen ist. 

Schwindelfreiheit! Wäre das nicht erstrebenswert? Ich meine die Ableitung des medizinischen Schwindels. Ich meine das Schwindeln im Sinn von "lügen" oder "täuschen" (es kommt wohl vom Englischen "swindle").

Wäre eine Welt erstrebenswert, in der nicht geschwindelt wird? 

Im deutschen Sprachgebrauch ist "schwindeln" eine nette Bezeichnung für "lügen". Schwindeln hat manchmal geradezu sympathische Züge. Das Wort "lügen" kann dagegen kaum positiv verstanden werden. Fällt aber jemand einem Schwindler oder einer Schwindlerin zum Opfer, dann wird dieses Geschehen schnell zu einer Strafsache. Dagegen muss ein Lügner meist nicht vor Gericht. Ein - sagen wir einmal - Heiratsschwindler dagegen schon. Dass wir diese Worte so schillernd verwenden, zeigt auf, dass es nicht so einfach ist mit dem Schwindeln. Darf man schwindeln, um Menschen vor andern oder vor sich selbst zu schützen? Darf man schwindelt, um jemand zu überraschen, etwa mit einem Geburtstagsfest.

Wie schwindelfrei sollte diese Welt sein oder werden? 

Zurück zum Geissweg. Ja, Ziegen kommen da locker durch. Für meine Frau und mich war es dagegen ein kleines Abenteuer. Schwindelfreie halten deutlich besser mit den Ziegen mit auf diesem Weg, der vermutlich darum auch keinen eigenen Wegweiser, sondern nur zwei Warnschilder besitzt. In gewissen Momenten ist es eben unerlässlich, schwindelfrei zu sein. So oder so.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Freitag, 28. Juli 2023

Königinnen mit Hörnern

Ein Zitat

Eine Eringer Leitkuh schaut auf der Alp am Fuss des Schafbergs (Leukerbad) nach dem Rechten.
Foto © Jörg Niederer
"Stehe an der Spitze, um zu dienen, nicht, um zu herrschen!" Bernhard von Clairvaux (1090-1153)

Ein Bibelvers - 1. Petrus 4,10+11

"Dient einander – jeder mit der Gabe, die er erhalten hat. So erweist ihr euch als gute Verwalter der Gnade, die Gott vielfältig schenkt. Wenn jemand in Gottes Auftrag redet, soll er nur das Wort Gottes weitergeben. Wenn jemand dient, soll er das aus der Kraft heraus tun, die Gott gibt. So soll in allem, was ihr sagt und tut, Gott durch Jesus Christus verherrlicht werden. Ihm gehören Herrlichkeit und Macht für immer und ewig. Amen."

Eine Anregung

Es ist wohl das erste Mal, dass ich Eringer Kühen in "freier Wildbahn" begegnet bin. Im Wallis musste das früher oder später einmal passieren. Sie machen Eindruck mit ihren nach vorn geschwungenen Hörnern und der schwarzen Fellfarbe. Geländegängig sind sie auch, ideal für die Alpwirtschaft. Berühmt in der ganzen Schweiz jedoch sind sie für ihre Rangordnungskämpfe. Das haben sich die Walliser für unblutige Kuh-gegen-Kuh-Kämpfe in der Arena zunutze gemacht. Seit einigen Jahren werden die Endausscheidungen sogar live im Schweizer Fernsehen übertragen. Dabei werden die Königinnen in jeder Kategorie erkoren und unter diesen Königinnen die "Königin der Königinnen", die "Reine des reines".

Ich war beeindruckt, wie mich die Leitkuh einer kleinen Herde nicht mehr aus den Augen liess, als ich an ihnen vorbei wanderte. Die anderen Tiere dagegen liessen sich bei ihrer Beschäftigung nicht stören, ja manche davon ignorierten mich.

Nach einiger Zeit bemerkten wir, wie die Tiere in etwa der selben Richtung unterwegs wahren wie wir. Voran ging wieder die Leitkuh. Konzentriert strebte sie einem Wasserloch zu. Die anderen Tiere folgten ihr, und nachdem das Leittier ein wenig getrunken hatte, wagten sich auch die anderen Kühe ans Wasser.

Sorgfältig eine Herde leiten, sich verantwortlich fühlen für das Wohl der andern; das ist doch genau das, was wir von Menschen in leitenden Funktionen erwarten. Der Stärkste, die Beste sein, das verpflichtet. Es geht nicht zuerst um Prestige, sondern um Dienst an der Gesellschaft. Ich wünschte mir mehr Menschen wie diese Eringer Leitkuh in den Führungsetagen der Welt. Vertrauensbildende Persönlichkeiten, welche nicht da sind, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und gegebenenfalls dafür mit dem eigenen Leben hinzustehen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Donnerstag, 27. Juli 2023

Geheimnisvolle Pfeiler im Pfynwald

Ein Zitat

Zwei historische Steinpfeiler im Pfynwald geben Fragen auf.
Foto © Jörg Niederer
"Durst macht aus Wasser Wein." Deutsches Sprichwort

Ein Bibelvers - Psalm 63,2+3a

"Gott, du bist mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Mein Leib schmachtet nach dir im dürren Land, er lechzt nach Wasser, aber es ist keines da. So halte ich Ausschau nach dir im Heiligtum."

Eine Anregung

Der Pfynwald ist einer der grössten Föhrenwälder der Schweiz. Eine zauberhafte Landschaft zwischen Leuk und Sieders an einem der letzten unverbauten Abschnitte der Rhone. Mitten in diesem besonderen Wald voller Überraschungen steht man plötzlich vor zwei Steinpfeilern, welche 16 Meter in die Höhe ragen. In etwa 11 Metern finden sich Aussparungen, an denen wohl etwas befestigt gewesen sein musste. Zwei weitere solche Steinpfeiler finden sich beim Bahnhof Leuk direkt links und rechts der nahe vorbeifliessenden Rhone.

Strassenpfeiler sind es nicht, dazu wären die Säulen zu wenig stabil. Eine in Auftrag gegebene Studie kommt zum Schluss, dass es sich dabei um Pfeiler für Wasserleitungen handeln müsse, also um so eine Art Aquädukt. Wie das ausgesehen haben könnte, kann man in der erwähnten Studie auf Seite 10 sehen. Dort ist eine rekonstruierte Hängewasserleitung aus Ried-Mörel abgebildet. 

Im Pfynwald gab es schon früh, so um 1810 herum, Rodungen, die von der sogenannte "Unteren Abschlacht" sich nach Norden ausdehnten. In der Mitte dieser Rodung liegt das Gehöft Pfyn. Wasser wurde über die 1866 gebaute "Neue Illwasserleite" herbeigeführt. Dieses Wasser diente aber nicht nur dem Pfyngut, sondern auch einer seit dem Mittelalter landwirtschaftlich genutzten Fläche, der "Millieren" (von lat. "millium" für Hirse). Dorthin wurde das Wasser via die beiden Pfeiler über bestehende Hindernisse hinweg geleitet. Gebaut wurde dieser Anschluss zwischen 1879 und 1883. Bereits ab 1907 wurde er wohl nicht mehr benutzt. Dann wurde ein Kanal durch den Pfynwald vollendet, der Teils unterirdisch Wasser aus der Rhone bei Leuk/Susten zum Wasserkraftwerk nach Chippis führt. Dieser Kanal ersetzte die Bewässerung der Felder mittels die Illwasserleite weitgehend.

Es geht im Wallis immer wieder um Wasserwirtschaft. Kaum etwas anderes ist wichtiger in diesem Kanton. Auch wenn die Walliser nicht mit Wasser anstossen (es heisse, dann würde irgendwo ein Walliser oder eine Walliserin sterben), ist dieses Wasser wohl von weitaus grösserer Bedeutung als die zwei Religionen dieser Region: Der Katholizismus und der Wein.

Übrigens. Die Kirche hatte auch die Hände im Spiel, als es um den Bau dieser Wasserleitungen ging. Denn ein grosser Teil der Ländereien beim Pfynwald gehörte römisch-katholischen Domherren und Kaplaneien. Das wissen wir unter anderem, weil in einem Dokument festgehalten ist, dass die Kaplanei Leuk Wasserbezüge aus einer dieser Hängewasserleitungen fünf Jahre lang nicht bezahlt hatte (!).

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Mittwoch, 26. Juli 2023

Auf den Wassern der Tiefe

Ein Zitat

Blick vom Ende des Unterwassersees in Saint-Léonard zurück zum Höhleneingang.
Foto © Jörg Niederer
"Höhlen sind ein Guckloch in die oberste Schicht der Erdkruste." Hanno Charisius (*1972)

Ein Bibelvers - 1. Mose 7,11

"Es war in Noahs 600. Lebensjahr, am 17. Tag des zweiten Monats. An diesem Tag brachen alle Quellen des Urmeers auf, und die Schleusen des Himmels öffneten sich."

Eine Anregung

Einhunderttausend Menschen besuchen jedes Jahr den grössten, natürlich entstandenen, unterirdischen See Europas. Nun gehören auch wir dazu. Mit etwa 50 weiteren Personen trieben wir uns auf dem Lac Souterrain de Saint-Léonard per Boot herum. Die Zutaten: Eine Grotte, in der sich der Gipsstein durch das Wasser auflöste und ein grosser, 300 Meter langer Hohlraum entstand; darin 6'000 m2 Wasserfläche, insgesamt gut 30'000 Kubikmeter Wasser; 10° Wassertemperatur, 15° Lufttemperatur; wenig Licht; viel Ruhe; einige grosse Forellen und die Boote. Das Boot in dem wir unterwegs wahren, hatte die Kennzeichnung VS 660.

Doch das alles hätte nicht gereicht, um diesen unterirdischen See zu befahren. Es brauchte ein erschütterndes Ereignis. Am 25. Januar 1946 um 18:32 Uhr veränderte ein Erdbeben von der Stärke 6,1 der nach oben offenen Richterskala die Geologie sosehr, dass das Wasser nicht mehr fast bis unter die Decke der Höhle reichte, sondern sich deutlich absenkte.

So ist es nun ein ausgesprochen beliebtes Freizeitziel, sich durch die Grotte schippern zu lassen. Oder in biblischen Floskeln: Wir fuhren auf den Wassern der Tiefe, also auf einem klitzekleinen Teil des weltweit vorhandenen 10,5 Millionen Kubikkilometer umfassenden süssen Grundwassers.

Erdbeben sei Dank? Aber vielleicht sehen das die direkten Anwohnerinnen und Anwohner etwas anders, deren Alltag durch die unzähligen Tritte und Schritte der Touristinnen und Touristen erschüttert werden.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Dienstag, 25. Juli 2023

Zuflucht bei den Toten

Ein Zitat

Christus, der Schmerzensmann mitten unter den Schädeln von verstorbenen Bewohnerinnen und Bewohner von Leuk.
Foto © Jörg Niederer
"ich bin der thod mit gewallt ich nim kriegschlyd jung und alltt." Ausspruch des Tods auf Totentanz im Beinhaus von Leuk

Ein Bibelvers - Offenbarung 14,13

"Und ich hörte, wie eine Stimme vom Himmel rief: 'Schreib: Glückselig sind die Toten, die von jetzt an sterben und zum Herrn gehören.' Ja, sagt Gottes Geist, sie sollen sich ausruhen von ihren Mühen. Denn ihre Taten gehen mit ihnen.'"

Eine Anregung

Bei den ersten schweren Regentropfen des Gewitters flüchte ich zu den Verstorbenen.

Schon zuvor hatte ich das Beinhaus von Leuk unter der Kirche St. Stephan besucht. Seit dem frühen 16. Jahrhundert hat man dort die Schädel und Oberschenkelknochen der Verstorbenen erneut bestattet, nachdem der Friedhof zu klein geworden war. 22'000 Schädel sollen es sein. Aufgeschichtet sind sie an einer 22 Meter langen Wand. Noch heute dient dieses Beinhaus als Aufbahrungsort für Verstorbene. Als Jakobspilgernde auf dem Rhein-Reuss-Rhone-Weg muss man diesem sehr speziellen Ort einen Besuch abstatten. Dort befindet sich der Pilgerstempel.

Als ich das erste Mal eintrat, war ich nur kurze Zeit allein. Dann kamen zwei jüngere Frauen in dunkler Aufmachung herein. Gotic Ladys, welche wohl auf einer eigenen touristischen Reise zu den morbiden Orten der Schweiz waren. Beim zweiten Mal unter den Verstorbenen blieb ich allein. Das gab mir Zeit, den Raum bei Donnergrollen des heraufziehenden Gewitters auf mich wirken zu lassen. Einen Moment lang ging sogar das Licht aus, und ich sass im Finsteren vor dieser Gebeinswand beim Schmerzensmann Jesus am Kreuz.

Im selben Raum befinden sich auch Totentanzdarstellungen aus der Zeit um 1520-1530. Eine Rarität in diesem Alter und Erhaltungszustand. Sie sind mit Spruchbändern statt Sprechblasen versehen und gleichen so modernen Comics oder Graphic Novels. Da hält ein Ritter dem Sensenmann seinen Geldbeutel entgegen, doch dieser antwortet ihm: "goltt noch geltt hap keyn (ergetzen?) ich wiell dir din herz apschiessen schetzhen." Auf dem anderen Bild marschieren Kirchenleute unterschiedlicher Bedeutung auf die Todesboten zu, welche ihnen die Insignien entreissen und sie damit zu gewöhnlichen Sterblichen machen. Ein Toter mit Speer und Sanduhr meint zum Geschehen: "O bapst cardinal bischoff prelaten und kaplâ die stund ist hie üwe' leben Müssen ir lan".

Mir fällt auf, dass unter den vielen hundert aufgeschichteten Schädeln nur gerade einer mit Unterkiefer zu finden ist. Warum wohl? An einem weiteren Schädel ist ein kreisrundes Loch (von einem Bohrer oder einer Gewehrkugel?) wieder zugewachsen. Dieser Verstorbene hatte wohl vorerst einen Eingriff oder Angriff überlebt. Doch am Ende kommt für alle das Ende. Wer da mit Hoffnung auf den Auferstandenen, auf Christus durch diese Einbahnstrasse gehen kann, ist schon hier auf Erden gut beraten.

Mensch, bedenke, dass du sterblich bist!

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Montag, 24. Juli 2023

Der kleine Mächtige

Ein Zitat

Auf dem Bhutanesischer Hängelaufsteg überquert man den Illgraben in sicherer Höhe und überblickt dabei die Erosionskraft des meist kleinen Baches.
Foto © Jörg Niederer
"Es ist schon lange einer meiner Grundsätze, dass die kleinsten Dinge bei weitem die wichtigsten sind." Sir Arthur Conan Doyle (1859-1930)

Ein Bibelvers - Jesaja 40,3+4

"Eine Stimme ruft: 'Bahnt in der Wüste einen Weg für den Herrn! Ebnet unserem Gott in der Steppe eine Straße! Alle Täler sollen aufgefüllt werden, Berge und Hügel abgetragen. Das wellige Gelände soll eben werden und das hügelige Land flach."

Eine Anregung

Die Dynamik im Gebirge ist an wenigen anderen Orten so leicht zu erkennen wie im Illgraben. Dass da ununterbrochen Berge abgetragen und Täler aufgeschüttet werden, zeigt sich in jährlich mehrfach wiederkehrenden Murgängen, die entstehen, wenn bei heftigen, langanhaltenden Niederschlägen grosse Mengen des weichen triassischen Dolomits als Geschiebe zu Tal befördert werden. Bis 200 Meter hoch aufgeschüttet hat der Bach einen Schuttkegel in der Talsohle. Östlich des Illbachs wird darauf Landwirtschaft betrieben. Westlich davon bildet er den oberen Teil des Pfynwaldes. Im Bach selbst findet sich keine Vegetation. Die kann sich in dieser geologisch so aktiven Zone nicht entwickeln.

Natürlich wurde dieser Bach durch Kunstbauten berechenbarer und für die Anwohner vom Dorf Susten sicherer gemacht. Zudem wird er durch verschiedene Messmethoden gut überwacht. Bis 15 Minuten vor einem Murgang wird davor akustisch und auf andere Weise gewarnt. Was dann aber daherkommt, kann auf einigen Videos aus sicherer Distanz mitverfolgt werden. Der Abgang eines Murgangs im Illgraben ist an Wassereintrübungen selbst im viele Kilometer entfernten Rhonedelta und im Lac Léman zu erkennen. 

Noch etwas ist bemerkenswert: Selbst ein kleines Rinnsal hat das Potential zu Gewaltigem.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Sonntag, 23. Juli 2023

Fliegende Juwelen bei Leuk

Ein Zitat

Bienenfresser ziehen während zweier Monate zwischen Turtmann und Leuk ihre Jungen gross. Den Rest der Zeit verbringen die farbigen Vögel im südlichen Afrika.
Foto © Jörg Niederer
"Ehe man eigene Kinder hat, hat man nicht die leiseste Vorstellung davon, welches Ausmaß die eigene Stärke, Liebe oder Erschöpfung annehmen kann." Peter Gallagher (*1955), Schauspieler

Ein Bibelvers - Matthäus 8,20

"Jesus antwortete ihm: 'Die Füchse haben ihren Bau, und die Vögel haben ihr Nest. Aber der Menschensohn hat keinen Ort, an dem er sich ausruhen kann.'"

Eine Anregung

Es sind die farbenprächtigsten Vögel, die bei uns brüten: Bienenfresser ziehen aus dem südlichen Afrika regelmässig nach Europa, um hier ihre Jungen grosszuziehen. Leuk im Wallis war eine der beiden ersten Brutstandorte in der Schweiz. Nach wie vor kann man diese farblich an Kolibris erinnernde Vögel vor Ort bestaunen. Das haben wir gestern getan. Dabei konnten wir die geschickten Luftjäger beobachten, wie sie fleissig Futter für die Jungen anschafften. Diese wohnen während ihrer Jugend gut versteckt in eineinhalb Meter langen Bruthöhlen, meist an niedrigen Böschungen in der Nähe eines Teichs. 

Bienenfresser jagen nicht nur Bienen, sondern alle grösseren Insekten. Die Beute wird meist noch an einem Ast gerieben, um so den möglichen Giftstachel loszuwerden.

Bienenfresser lieben die Wärme. Den Klimawandel stecken sie locker weg und werden wohl mit der Erwärmung bei uns auch weitere Brutstandorte erobern.

Während wir beobachteten, wie die Elternvögel ununterbrochen Futter für den Nachwuchs herbeischafften, meinte meine Frau, man sollte mit allen Paaren, die sich Kinder wünschen, erst einmal den Vögeln beim Brutgeschäft zuschauen. Dann würden diese einen Eindruck davon bekommen, was Kindern ihren Eltern abverlangen werden.

Kinder sind eine Freude, aber auch eine grosse Aufgabe. Das wusste Gott schon lange, von dem es ja heisst, dass er uns Menschen wie Vater und Mutter ist. Und wir wissen es auch, sprechen wir doch an diesem heutigen Tag wieder von Gottesdienst. Gott, der uns, seinen Kindern, dient.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Samstag, 22. Juli 2023

Walliser Chinesisch

Ein Zitat

Als Becken gefasste Heisswasserquelle in der Dalaschlucht.
Foto © Jörg Niederer
"Möge dein Weg stets aufwärts führen, auch wenn du tiefe Täler und dunkle Schluchten zu durchwandern hast." Irischer Segenswunsch

Ein Bibelvers - Jesaja 64,1

"Komm wie ein Feuer, das trockene Zweige in Brand setzt und Wasser zum Kochen bringt! Zeig deinen Feinden, wer du bist. Völker sollen vor dir zittern."

Eine Anregung

Kein Tourismusort in den Bergen, der nicht irgend eine Schlucht vorzuweisen hat als Attraktion für die Gäste. Verwöhnte Schweizerinnen und Schweizer haben da schon Einiges gesehen, und so bleibt mitunter auch die Endtäuschung nicht aus. Nun ist die Dalaschlucht in Leukerbad nicht das Spektakulärste hierzulande, dafür ist sie rollstuhlgängig bis zum Wasserfall. Und es gibt eine Sonderheit, die nicht jede Schlucht aufweisen kann: Natürliche Heisswasserquellen. Bei einer davon kann man sich sogar mittels Eimer an einem Seil heisses Wasser hochziehen. Das haben wir natürlich ausprobiert.

Da der Weg durch die Schlucht kurz ist, und wir noch mehr wandern wollten, ging es noch hoch zu einem chinesischen See. Zumindest klingt sein Name so, als wäre er von den Einheimischen für die Touristen aus Asien so benannt worden: Majingsee. Es gibt auch eine Majingalp und ein Majinghorn. Ich musste lange suchen, bis ich auf eine Namenserklärung in einem französischen Alpenclub-Beitrag stiess. "Majing" ist ein Walliser Wort für Maiensäss (französisch: "Le mayen"). Der Majingsee ist klein, fast schon winzig. Das Majinghorn dagegen ist immerhin ein Dreitausender. Und die Majingalp ist ganz schön unbescheiden in ihrer Namensgebung. Ein bisschen so, wie das Dorf, das sich Dorf nennt, oder der Berg, der Berg heisst.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Freitag, 21. Juli 2023

Walliser Wasser

Ein Zitat

Entlang der Grossi Wasserleitu, einer 6 Kilometer langen Suone oberhalb von Salgesch.
Foto © Jörg Niederer
"Während meine Gedanken von einer schläfrigen Unbestimmtheit waren und sich in einer sinnlosen Unselbständigkeit bewegten, waren die Sinne geschärft, denn der Pfad stieg steil an, bis er, an gewaltigen Abstürzen der Landschaft vorbeiführend, die berühmte Suone, eine über weite Strecken aus dem Stein gehauene Wasserleitung, erreichte und ab da auf regelmässiger Höhe der Talflanke folgte." Gerhard Falkner (*1951) über eine Suone im Baltschiedertal.

Ein Bibelvers - 2. Könige 20,20+21a

"Die übrigen Berichte über Hiskija finden sich im Buch der Chronik der Könige von Juda. Dort sind auch seine Erfolge beschrieben und wie er den Teich und die Wasserleitung baute. So regelte er die Wasserversorgung der Stadt. Dann starb Hiskija."

Eine Anregung

Wer mit dem Zug zwischen Sierre und Leuk unterwegs ist, sieht auf der rechten Rhoneseite an die sogenannte Varnerplatten, ein Relikt eines prähistorischen Felssturzes. Wer genau hinsieht, entdeckt zwei horizontale Linien im Hang, die durch ihr üppiges Grün auffallen. Es sind Wasserleitungen, sogenannte Suonen oder Bisses. Die untere ist 3 Kilometer lang und wird "Mengis Wasserleitu" genannt oder "Suone von Varen". Varen ist bekannt für seine Schmetterlinge. Dort gibt es einen Pfyfoltruweg, das Walliser Wort für Schmetterlingsweg. Die obere Suone wird "Grossi Wasserleitu" genannt, oder Bisse de Varone. Beide Suonen bestehen sicher seit dem 15. Jahrhundert und sind Zeugen von der grossen Bedeutung des Wassers für die Landwirtschaft dieses Bergkantons. Noch heute wird das Wasser des Bachs Raspile nach einem Urteil des Bischofs Jost von Silenen vom 14. September 1490 über die Grossi Wasserleitu auf die verschiedenen Gemeinden entlang der Suone verteilt.

Wasser bedeutet Leben und Auskommen. Vielleicht können wir gerade von den Wallisern lernen, wie der in Zukunft nötiger werdende sparsame Umgang mit Wasser aussehen kann.

Heute sind wir von Inden, dem Nachbardorf von Leukerbad, her kommenden zur Bisse de Varone abgestiegen und ihr dann die ganzen 6 Kilometer gefolgt. Dabei haben wir so nebenbei die Sprachgrenze überschritten. Obwohl in der Höhenlage von 1000 Metern über Meer die Sonne ganz schön kraftvoll auf uns herabbrannte, bereiteten uns die Bäume, welche die Bisse säumten, und das schnell fliessende Wasser ein recht angenehmes Klima. Wasser und Bäume sind ein unschlagbares Gespann gegen die Hitze. Das sollte man besonders in Städten beherzigen.

Mehr über die Suonen des Wallis findet sich auf einer interessanten Webseite.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Donnerstag, 20. Juli 2023

Der älteste Klettersteig

Ein Zitat

"Heute stehen wir vor dem Abgrund, morgen sind wir einen Schritt weiter." Redewendung aus Deutschland

Die Albinenleitern führen einen ausgesetzten Felsriegel hoch, und verbinden seit mindestens 300 Jahren Leukerbad mit einem der schönsten Dörfern des Wallis.
Foto © Jörg Niederer



















Ein Bibelvers - 2. Petrus 2,4

"Gott verschonte ja auch die Engel nicht, die Unrecht getan hatten. Er legte sie in Ketten, die in der Finsternis angebracht sind, und übergab sie damit der Unterwelt [Abyssus - Abgrund]. Dort werden sie bis zum Gericht gefangen gehalten."

Eine Anregung

Wer "Albinenleitern" im Internet eingibt, wird schnell zu eindrücklichen Bildern von einem steilen Bergweg geführt. An anderer Stelle erfährt man, dass es diese Leiternverbindung schon seit mindesten 1781 geben muss. In diesem Jahr wurden die Leitern erstmals in einer Landkarte eingezeichnet.

Bis in die 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts gab es zwischen Leukerbad und Albinen keine andere Verbindung. Auf diesem Weg wurden also zu Fuss all die Güter transportiert. Heute wird der Weg über die acht Leitern nur schwindelfreien und trittsicheren Wandernden empfohlen.

Gestern haben wir diesen Weg begangen; besser gesagt, beklettert. Eigentlich wollte ich nicht, doch meine mutigere Frau ist einfach eingestiegen, auch nachdem uns ein Ehepaar mit Hund begegnete, von denen die Frau nach erstem Augenschein wieder umgekehrt ist. Mann und Hund wären sowieso nicht durchgestiegen und hätten den weniger ausgesetzten Weg über den Strassentunnel genommen. So folgte ich halt notgedrungen meiner abenteuerlustigen Gemahlin. Damit man eine Vorstellung über das Gelände bekommt, habe ich die Albinenleitern vom Hotelzimmer aus in der Übersicht fotografiert. Nur die Leitern 6 und 7 sind zu sehen. Zwischen den Leitern liegt ein gut mit Stahlseilen gesichertes steile Weglein. Hinauf mag es ja noch recht gut gehen. Uns kam ein Ehepaar auf dem Weg hinunter entgegen welches meinte, das sei dann schon eine echte Mutprobe gewesen an einigen Stellen in die Tiefe zu schauen und trotzdem einzusteigen.

Nun, wir haben die Albinenleitern überwunden und sind dabei am Abgrund gestanden, haben über die Bergler gestaunt, welche solche Wege angelegt haben und dann regelmässig durchgestiegen sind. Mut und Gottvertrauen in früheren Jahren. Mut und Sicherungsseile heute. Noch besser wäre Mut, Sicherungsseile und Gottvertrauen.

Übrigens: Gott sei Dank, bin ich keiner der Engel auf der von Jakob geträumten Himmelsleiter (1. Mose 28,10-22). Unvorstellbar, bis in den Himmel auf und absteigen zu müssen, nachdem ich schon nach diesen 100 Metern fix und fertig war. 

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Mittwoch, 19. Juli 2023

Der erste Tag

Ein Zitat

Leukerbad mit der Felsflanke beim Gemmipass.
Foto © Jörg Niederer
"Es muss eine Menge Dinge geben, gegen die ein heißes Bad nicht hilft. Aber ich kenne nicht viele." Sylvia Plath (1932-1963)

Ein Bibelvers - Jeremia 4,14

"Jerusalem, wasch dein Herz rein vom Bösen! Nur so kannst du gerettet werden! Wie lange noch soll dein Inneres voller Übel sein? Wie lange sollen unheilvolle Gedanken in dir wohnen?"

Eine Anregung

Ferien. Anreisetag. Das erste Mal an einem neuen Ort. Ein besonderer Moment. Erstmals im Urlaubszimmer. Einrichten, Steckdosen zählen. Klimaanlage ausschalten, Fenster öffnen. Raus auf den Balkon. Dann der Bummel durchs Dorf. Wo könnte man an den Abenden essen? Einkaufen für den nächsten Tag. Das Wetter findet statt. Ein Gewitter zieht auf. Schnell zurück. Es reicht vor dem Abendessen noch für ein Bad im Wellnessbereich. Thermalwasser. Dann das Nachtessen, das sich wie gewohnt Gang um Gang hinzieht. Noch einmal setzte ich mich auf den Balkon des Zimmers, suche mit dem Feldstecher die steilen Flanken der felsdurchsetzten Alpwiesen ab und entdecke Gämsen (und später Kühe).

Der erste Tag an einem neuen Ort. Da, und doch noch nicht so ganz. Sicher und doch voller Fragen. Es ist alles gut gegangen. Dafür bin ich dankbar und davon bin ich müde. Also ab ins Bett. Kuhglocken erzählen Nachtgeschichten. Ich schliesse die Augen. Leukerbad erlebt sein nächstes Gewitter.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Dienstag, 18. Juli 2023

Hokus Pokus Salamandra Salamandra

Ein Zitat

Ein junger Feuersalamander treibt im trüben Wasser eines Waldtümpels.
Foto © Jörg Niederer
"Im Talmud wird gelehrt, dass der Salamander aus einem sieben Jahre hindurch ununterbrochenen Feuer entsteht." Quelle: www.feuersalamander.ch

Ein Bibelvers - 3. Mose 11,29+30

"Von den Kleintieren, die am Boden leben, sollt ihr einige ebenfalls für unrein halten: den Maulwurf, die Maus und verschiedene Arten der Eidechse; darunter der Gecko, der Waran, die Blindschleiche, der Salamander und das Chamäleon."

Eine Anregung

Vor einer Woche habe ich mir mindestens 100 Jahre Sündenvergebung durch Jesus Christus erworben. Denn ich habe dem Blick eines Feuersalamanders standgehalten, ohne mich vor Ekel abzuwenden. Der Volksmund besagt, dass dies sündenreinigend wirke. Ich habe sogar in mehrere Feuersalamanderaugen gesehen. Ob das zu noch mehr Jahren Sündenvergebung führt, weiss ich nicht. Es waren aber auch nur junge Tiere. Das wiederum könnte die Wirkung reduzieren.

Die Feuersalamander die ich sah, trieben an der Oberfläche eines trüben Tümpels. Teilweise hatten sie das Larvenstadium hinter sich gelassen und keine Kiemen mehr. Bald würden sie an Land kriechen und dort bis 20 Jahre lang weiterleben. Diese Schwanzlurche sind wunderschön. Ihnen wurde angedichtet, dass sie mit ihrer Kälte Feuer löschen können und darin überleben. Das ist aber grosser Unsinn. Wer mehr von diesen Schauermärchen lesen möchte, sei auf einen Beitrag über dieses schöne Tier verwiesen. Eher informativ und naturwissenschaftlich wird der Schwanzlurch in diesem Video beschrieben.

Der bis 20 Zentimeter lange Feuersalamander ist giftig, aber ganze Völker, wie Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert behauptete, kann er nicht töten. Er ist gar nicht in der Lage, Menschen zu gefährden. Sein Gift hilft ihm, Feinde abzuschrecken. Dazu kann er aus seinen Drüsen das Sekret Samandarin bis einen Meter weit spritzen. Dieses Gift wäre ein wirksames lokales Betäubungsmittel, würde es nicht so viele schlimme Nebenwirkungen wie Atemhemmung, Bluthochdruck und Arrhythmien des Herzen auslösen.

Der Legende nach wurde Christus bei der Kreuzigung von einem römischen Soldaten mit einem Feuersalamander beworfen. Was sich die Menschheit nicht alles ausdenkt, nur um eine Sache noch schlimmer darzustellen, als sie sowieso schon ist.

Übrigens: Wo Feuersalamander leben, da ist die Natur noch weitgehend intakt. So erhoffe ich mir mehr Begegnungen mit diesen gelbschwarzen Schönheiten.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Montag, 17. Juli 2023

Des Teufels viele Küchen

Ein Zitat

Ein Holzzahn in der Tüüfels-Chuchi bei Wilchingen
Foto © Jörg Niederer
"In des Teufels Küche werden himmlische Speisen gekocht." Walter Ludin, Kapuzinermönch

Ein Bibelvers - Römer 16,20

"Der Gott, der Frieden schenkt, wird den Satan schon bald am Boden zertreten. Und ihr sollt über ihn triumphieren. Die Gnade unseres Herrn Jesus sei mit euch!"

Eine Anregung

Der Teufel übt eine seltsame und unverdiente Anziehungskraft auf die Menschen aus. So verwundert es nicht, dass viel Flurnamen sich auf dem Bocksbeinigen beziehen.

Vom Teufelskeller bei Baden habe ich schon einmal erzählt. Teufelsküchen finden sich gleich reihenweise. Gestern besuchte ich eine davon. Südlich vom Rossberg gibt es eine besonders wilde Waldlandschaft. Diese Wildheit ist wohl auch Grund für die Namensgebung, ist mit der Teufelsküche doch poetisch die Hölle bezeichnet. Wenn also jemand in Teufels Küche kommt, dann bedeutete das besonders heftige Schwierigkeiten.

Eine kleine Bestandesaufnahme. Im Kanton Schaffhausen finden sich bei Thayingen, Merishausen, Beringen (Naturschutzgebiet), Schaffhausen, Beggingen und Wilchingen (da war ich), Orte, die so heissen. Dann gibt es im thurgauischen Pfyn, Homburg, Frauenfeld und Schlatt (direkt neben der "Pschissewis") eine Tüüfels-Chuchi. Verirrt hat sich wohl die Teufelsküche, die im bernischen Eriz angesiedelt ist. Im schaffhauserischen Hallau gibt es, statt der ganzen Küche lediglich des Tüüfels Häärdplatte, was nur bedeuten kann, dass Hallau als ganzes die dazugehörige Küche sein muss.

Die Häufung der Tüüfels-Chuchine im Schaffhauserischen und Thurgauischen ist auffällig und wirft ein besonderes Licht auf diese Region. Es scheint, als würde hier der Teufel besonders gerne seine Gäste bewirten.

Abschliessend möchte ich aber festhalten, dass es zwar viel Gottesäcker gibt, aber keine Gottesküchen. Also muss wohl der Teufel des Herrgotts Leibkoch sein, und die Ostschweiz das himmlische Esszimmer, in dem teuflisch gute Gerichte aufgetragen werden.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Sonntag, 16. Juli 2023

Kreisen in Olten

Ein Zitat

Elitefahrer am Velorennen 'Grand Prix Olten' fahren 100 Runden im Kreis herum.
Foto © Jörg Niederer
"Der Horizont vieler Menschen ist ein Kreis mit Radius Null — und das nennen sie ihren Standpunkt." Albert Einstein (1879–1955)

Ein Bibelvers - Jesaja 40,22

"Gott thront so hoch über dem Erdkreis, dass die Menschen darauf wie Heuschrecken erscheinen. Er spannt den Himmel aus wie ein Tuch. Er breitet ihn aus wie ein Zelt, in dem man wohnen kann."

Eine Anregung

Ein Fahrradrennen in Olten als Sonntagsbeitrag in diesem Blog. Doch, das passt. Dorthin war ich am vergangenen Sonntag unterwegs. Nach Olten, meine Mutter besuchen; nicht an das Fahrrad-Kriterium. Dieses Rennen war lediglich Beigemüse auf meinem Weg ins Altersheim. Der GP Olten war in vollem Gang, die 37 Fahrer rasten auf ihren Rädern bereits das zwanzigste Mal im Kreis. Hundert Runden von 775 Metern Länge galt es zu absolvieren. Immer rechts herum. Immer in die gleiche Richtung. Hundert Mal auf die selbe Seite in die Kurve liegen, hundert Mal eine kalte Dusche durchfahren; Erfrischung auf dem Weg, von der Feuerwehr eingerichtet an diesem heissen Tag. Hundert Mal hinauf zur Friedenskirche, hundert Mal hinunter zur Migros, hundert Mal über die Ziellinie. Immer wieder das Gleiche von vorn. 

Gut, von all den Fahrern haben nur 22 alle hundert Runden absolviert. Sich so im Kreis drehen, ohne Chance auf den Sieg, ist halt nicht jedermanns Sache.

Fragt sich noch, ob das hundertfache Zuschauen nicht noch eintöniger ist, als sich hundertfach selbst im Kreis zu drehen?

Andererseits: Sind wir nicht alle im Kreis unterwegs, kommen immer wieder an den gleichen Ausgangsort zurück? Meist ist das eine Wohnung. Und die Wege, die wir zurücklegen, gleichen sich Tag für Tag. Zum Einkaufen, tausendmal die selbe Strecke. Zum Arbeiten, tausend Mal an den gleichen Passanten vorbei, die auch ihren kreisenden Gewohnheiten meist zu den selben Zeiten wie immer nachgehen. Mag sein, dass da mal ein ganz anderer Weg gegangen wird, vielleicht sogar links herum, in den Ferien etwa. Aber immer wieder landen wir am gleichen Ort, bis wir nicht mehr am gleichen Ort landen, so wie meine Eltern; im Altersheim. Da drehen wir dann immer kleinere Runden, bis wir uns schlussendlich ein letztes Mal gedreht haben werden.

Ist das ganze Leben gar nichts anderes, als ein sich Vorbereiten auf diesen Moment, an dem ich aus dem Rennen aussteigen, siegreich oder nicht, hoffnungsvoll oder nicht, fluchtartig oder nicht?

Darüber sinniere ich am vergangenen Sonntag, wie ich nach meinem Besuch bei meiner Mutter im Altersheim wieder an der Rennstrecke stehe. Dort drehen die Fahrer ihre letzten Runden. Ihre Zahl ist kleiner geworden. Sie sind deutlich langsamer unterwegs. Ich gehe der Rennstrecke entlang zum Bahnhof und denke: Bald werde ich meine heutige Runde vollendet haben. Morgen drehe ich mich weiter. Hoffentlich ohne kalten Dusche.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Samstag, 15. Juli 2023

Bahnfahrtsgerüche und andere Düfte

Ein Zitat

Der Abluftbereich an den Doppelstockkompositionen der Bahn.
Foto © Jörg Niederer
"Es gibt Menschen, die mit Freude geben, und diese Freude ist ihr Lohn... Sie geben, wie im Tal dort drüben die Myrte ihren Duft verströmt. Durch die Hände solcher Menschen spricht Gott zu uns und durch ihre Augen lächelt er auf die Welt." Khalil Gibran (1883–1931)

Ein Bibelvers - Epheser 5,2

"Und führt euer Leben so, dass es ganz von der Liebe bestimmt ist. Genauso hat auch Christus uns geliebt und sein Leben für uns gegeben – als Opfer und als Duft, der Gott gnädig stimmt."

Eine Anregung

Immer wenn ich in eine Doppelstockkomposition der Schweizer Bahn einsteige, fällt mir eines unangenehm auf. Es riecht übel. Aber nur im Eingangsbereich draussen vor der Tür und einen kurzen Moment auch im Innern des Zugs. Ich vermute, es hängt mit der Abluft aus dem "Erfrischungsbereich" zusammen. Auch weiss ich nicht, ob das bei allen Eingängen dieser Wagons der Fall ist. Da wo ich jeweils einsteige, ist es so.

Normalerweise gehe ich nicht in Räume, in denen es vor der Tür schon übel riecht. Aber ich will ja von A nach B. So bleibt mir nichts anderes übrig, als trotzdem einzutreten.

Nun ist diese Erfahrung hier in de Schweiz noch immer weitaus erträglicher als in manchen Transportmitteln anderer Länder. Und doch ist der Eingangsbereich eine Referenz.

Auch wenn ich in Kapellen und Kirchen eintrete, fällt mir nebst dem Optischen auch das Olfaktorische auf. Müffelt es oder riecht es frisch? Liegt Kerzenrauch oder Weihrauchduft in der Luft? Wird für genügend Luftumwälzung gesorgt?

Weil ich schon einige Jahre in den Räumen der Methodistenkirche St. Gallen zu Hause bin, fällt mir der besondere Duft dieser Lokalität nicht mehr so auf. Gut, wenn dann andere ihre ersten Eindrücke formulieren. 

Nun, vielleicht nicht gerade in diesen Tagen. Denn aktuell riecht es in der Methodistenkirche St. Gallen im Bereich der Jugendräume nicht besonders gut. Ein Wasserrohrbruch an einer städtischen Leitung hat den Jugendraum unter Wasser gesetzt. Nun müffelt der Teppich im Trocknungsraum vor sich hin und verbreitet sein betörendes Aroma. Doch das wird wieder.

Stellt sich noch die Frage, nach was mein Leben duftet: Nach vorbeigehen oder nach eintreten?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Freitag, 14. Juli 2023

Bahn- und Kirchensprüche

Ein Zitat

Die Ein- und Austiegstür in der Bahn öffnet sich automatisch auf der richtigen Zugsseite.
Foto © Jörg Niederer
"Die Weiterfahrt verzögert sich, weil der Sicherheitsdienst unseren Lokführer nicht erkannt und ihn mitgenommen hat!" Zugsdurchsage vom 5. Oktober 2017 in einer Zugskomposition der Deutschen Bahn

Ein Bibelvers - Jesaja 57,14

"Gott sagt: Schüttet eine Straße auf, bahnt einen Weg! Räumt meinem Volk die Hindernisse aus dem Weg."

Eine Anregung

Jedes Mal, wenn im Zug bei der Einfahrt in einen Bahnhof die Durchsage kommt, wundere ich mich, warum jeweils mitgeteilt wird, auf welcher Seite sich der Ausstieg befindet. Es ist doch so, dass die Tür sich sowieso nur auf der richtigen Seite öffnet, selbst wenn man auf der falschen Seite den Knopf drückt. Muss das Bahnpersonal zusätzlich beschäftigt werden? Die Durchsage kommt ja meist in drei verschiedenen Sprachen. Oder will man vorbeugen, falls doch einmal auf der falschen Seite die Tür aufgeht? Vor langer Zeit ist mir das einmal in einem sehr alten Wagon passiert. Oder befürchtet man, dass die Passagiere ohne Ansage der richtigen Seite in die verschlossene Tür hineinrennen?

Die beiden Türen sind ja auch nicht soweit voneinander entfernt, dass man die richtige nicht mehr erreichen würde, falls man vor dem falschen Ausstieg angestanden sein sollte. Mir hilft die Ansage sowieso kaum etwas. Erstens verwechsle ich oft link und rechts. Und zweitens vergesse ich die angesagte Ausstiegsseite meist wieder auf dem Weg vom Abteil zur Tür.

Und dann gibt es auch noch die Momente, wenn du innen im Zug vor der richtigen Ausstiegstür stehst, und diese sich gar nicht öffnen will. 

Also, wozu diese Ansagen über den Ausstieg in Fahrrichtung des Zuges rechts oder links?

Andererseits: Auch in der Kirche gibt es überflüssige floskelhafte Wendungen und Regieanweisungen. Beispiele: "Alle, die sich dazu in der Lage fühlen, mögen zum Gebet aufstehen." Als würden die andern nicht sowieso sitzen bleiben. Oder die bekannte Einleitung zum Unser Vater: "Wir beten gemeinsam das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte." Ausreichen würde ja ein "Wir beten gemeinsam". Denn ein anderes Gebet als das Unser Vater können evangelische Christinnen und Christen sowieso nicht auswendig aufsagen. Oder: "Zum Segen und dem Schlusslied erheben wir uns." Als wüssten das nicht alle längst schon. Und sollte es dann doch jemand nicht wissen, würde er oder sie bestimmt nicht sitzen bleiben, wenn sich um ihn oder sie herum alle erheben. Oder die meist zweimalige Nennung der Liednummer des nächsten Lieds, obwohl diese gut sichtbar an der Liedtafel angeschlagen ist oder per Beamer projiziert wird.

In der Kirche geht es halt manchmal auch etwas unlogisch zu und her – wie in der Schweizer Bundesbahn.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Donnerstag, 13. Juli 2023

Die unbekannte Testperson

Ein Zitat

Die jungen Halsbandschwindlinge sehen wie kleine Patisson aus. Sie werden nur 1,5 cm im Durchmesser gross.
Foto © Jörg Niederer
"Wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert." Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)

Ein Bibelvers - 1. Petrus 3,18

"Christus hat einmal für die Sünden gelitten: Der Gerechte litt für die Ungerechten. So sollte er euch zu Gott führen: Sein Körper wurde zwar am Kreuz getötet, aber durch den Geist Gottes wurde er wieder lebendig."

Eine Anregung

Halsbandschwindlinge sind hübsche kleine Pilze. Ihre Fruchtkörper haben gerade einmal 0,5 bis 1,5 Zentimeter Durchmesser. Die Wissenschaft hat in ihnen ein einzigartiges Peroxidaseenzym entdeckt. Wozu es genau nützlich sein könnte, weiss man noch nicht. Die Pilzchen leben auf dünnen, am Boden liegenden Laubholzästchen. Bei Trockenheit können die Fruchtkörper vorübergehend einschrumpfen, scheinbar dahinschwinden. Sobald ihre Umgebung wieder feucht wird, leben sie wieder auf.

Die Pilze sind nicht giftig, aber auch nicht essbar; also ungeniessbar. Sie riechen nicht und schmecken mild. 

Bei diesen Erkenntnissen frage ich mich jeweils, wer wohl zum ersten Mal an diesem Pilzchen gerochen hat, wer es in den Mund genommen, darauf herumgekaut und wohl auch heruntergeschluckt hat? Der oder die Erste hat sich damit einer grossen Gefahr ausgesetzt. Der Pilz hätte hochgiftig sein können. So wie der Knollenblätterpilz. Dessen Giftstoffe, die Amatoxine, zerstören die Leber. Sechs bis zwölf Stunden erst nach dem Essen kommt es vorübergehend zu Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Wahnvorstellungen. Nachdem diese Symptome abgeklungen sind, beginnt weitere 12 Stunden später die Zerstörung der Leber.

Wer wohl hat zum ersten Mal solche Vergiftungserscheinungen mit dem Essen des Knollenblätterpilzes in Verbindung gebracht? Hat er oder sie überlebt? Haben aus seinem Tod andere gelernt, diesen Pilz zu meiden?

Vielleicht könnte man sogar sagen, dieser Mann oder diese Frau hat ihr Leben für viele andere Menschen gegeben. Er oder sie hat sich geopfert. Er oder sie wurde zum Opfer, das Leben rettet.

Diese Vorstellung, das einer sein Leben gibt für viele, findet sich auch im christlichen Glauben. Dort spricht man in diesem Zusammenhang von Jesus Christus, der für die Sünden der Welt am Kreuz gestorben ist. Man könnte sagen, Christus hat die giftige Wirkung der Menschheit durch sein Sterben neutralisiert.

Ich gebe zu, das ist ein verstörender theologischer Gedanke. Gerne hätte ich die Erlösung der Menschheit ohne Opfer. Aber das geht wohl nicht. Denn mindestens einer oder eine muss erst die Giftigkeit am eigenen Leib erfahren, bevor die andern sich darüber bewusst werden konnten.

Aber auch das gilt: Jetzt wo wir uns über die Giftwirkung mancher Pilze bewusst sind, muss niemand mehr daran sterben. Es braucht keine weiteren Opfer mehr. Auch in theologischer Hinsicht nicht.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Mittwoch, 12. Juli 2023

Richard Löwenherz im Zürcher Weinland

Ein Zitat

Die Bruder-Lienert-Höhle unterhalb des Hörnlis auf dem Irchel gibt nicht besonders viel her. Sie sieht ein bisschen aus wie ein in der Erde vergrabenes Wesen, das auf Passanten lauert.
Foto © Jörg Niederer
"Wir aber stellen die Liebe zu Gott und seine Ehre über unsere eigene und über die Eroberung vieler Gebiete." Richard I (the Lionheart) von England

Ein Bibelvers - Psalm 122,6

"Wünscht Frieden der Stadt Jerusalem: 'Alle, die dich lieben, sollen sicher leben!'"

Eine Anregung

Im zürcherischen Freienstein-Teufen und in Rorbas sind Menschen mit dem Namen Lienhard schon um 1700 urkundlich erwähnt. Wie ich gestern schrieb, soll es um 1680 unter zwei Lienert-Brüdern zu einem Totschlag gekommen sein. Verbunden wird diese traurige Geschichte mit der Blutbuche von Buch am Irchel, sowie der Bruder-Lienert-Höhle und dem Lienert-Stein oberhalb von Teufen ZH auf dem Irchel. 

Ob nun "Lienert" geschrieben oder "Leonhard", der Familienname hat wohl seinen Ursprung im 6. Jahrhundert beim Einsiedler St. Leonhard, der im Ort St.-Léonard-de-Noblat bei Limoges in Frankreich lebte. Dessen Verehrung fand auch entlang der Nordgrenze der Schweiz Eingang. Ein Nachammer dieses Heiligen Leonhards soll einst die Bruder-Lienert-Höhle bewohnt haben und dort im Jahr 1450 von vier Räubern "niedergeworfen" (ermordet) und ausgeraubt worden sein. 

Nun aber gibt es zu diesem Nagelfluh-Loch noch eine viel verrücktere Geschichte. Diese ist verbunden mit dem 3. Kreuzzug (1191: Schlacht um Akkon) von Richard Löwenherz. Daran sollen auch zwei Brüder teilgenommen haben, Nachkommen des in der Folge bei Wien inhaftierten Königs. Beide schafften es, der Gefangennahme durch Flucht in die Schweiz zu entgehen, wo sie sich vorerst in der Höhle auf dem Irchel versteckten. In der Folge blieben sie in der Region hängen, legten ihre Adelstitel ab und nahmen Wohnsitz. Man nannte sie in Anlehnung an Richard Löwenherz nur "die zwei Lienhards". Löwenherz ist eine Übersetzung vom Englischen "Lionheart". Dieser englische Namen auf deutsch ausgesprochen klingt wie Lienert oder Leonhard.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass auch aus dem Zürcher Weinland Männer an den Kreuzzügen teilgenommen haben. Doch mit den Verwandten von Richard Löwenherz hatten sie wohl nichts zu tun. Wahrscheinlicher ist, dass sich Ansässige mit dem Namen Lienhard so eine besondere Herkunftsgeschichte zimmerten. Es könnte sich also um eine überhöhte Namenserklärung handeln. Denn das "hard" im Namen "Lienhard" kommt bestimmt nicht von (Löwen-)"Herz", sondern vom althochdeutschen Wort "hard" in der Bedeutung "kräftig".

Stellt sich die Frage: Was würde ich wählen? Eine Geschichte, die sich herleitete von einem heiligen Einsiedler aus Frankreich, oder eine Geschichte, die verknüpft ist mit dem berühmten englischen König Richard Löwenherz? Letztere gibt halt schon viel mehr her. Das führt mich wiederum zur Frage: Warum wollen viele Menschen bedeutender sein, als sie es sind?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen