Ein Zitat
"Floriane Tissières leistet in der modernen Kunst Erinnerungsarbeit, indem sie mit ihren Werken eine vergangene Welt heraufbeschwört." Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität BerlinFoto © Jörg Niederer
Ein Bibelvers - Psalm 121,4+5
"Sieh doch: Der über Israel wacht, der schläft und schlummert nicht. Der Herr wacht über dich. Der Herr ist dein Schutz, er spendet Schatten an deiner Seite."
Eine Anregung
An einem Regentag der vergangenen Woche besuchte ich die Stadt Leuk und dort das Beinhaus (Siehe Blogbeitrag vom 25. Juli 2023) und andere Besonderheiten. Natürlich verschlug es mich auch ins Schloss Leuk, ein genial von Mario Botta restauriertes, altes Gemäuer. In der dort gerade laufenden Ausstellung hat mich ein kleines Werk von der Künstlerin Floriane Tissières angesprochen. Die Frau mischt Altes und Neues auf überraschende Weise. 2002 waren ihre Werke Teil einer Ausstellung zum 1. August der Schweizer Botschaft in Berlin.
Das kleine Werk mit dem Titel "Lassitude" passt ganz gut zum Beitrag von Gestern. Zu sehen ist ein einfaches Kruzifix. Die Künstlerin hat nicht viel daran verändert. sie hat lediglich die Arme des Gekreuzigten vom Leib abgetrennt, mit den schwerkraftbedingt zu erwartenden Folgen. Auf dem Sockel der Installation steht das Wort "Lassitude".
Für dieses eine französische Wort gibt das Übersetzungsprogramm "DeepL" eine Vielzahl an deutschen Entsprechungen wieder. Hier die ganze Liste: Erschöpfung, Ermüdung, Überdruss, Langeweile, Lustlosigkeit, Lassen, Müdigkeit, Mutlosigkeit, Lebensmüdigkeit, Mattigkeit, Abstumpfung, Gelassenheit, Lebensüberdruss, Müssiggang, Abgespanntheit, Lassitude, Erschöpftheit, Abgestumpftheit, Abgeschlagenheit, Lebensmüde, Müssigkeit, Abgedroschenheit, Abgedrosselt.
Jedes dieser Worte könnte nun zu einer kleinen Predigt führen. Gestern schrieb ich, dass mit der Kreuzigung Jesu weitere Opfer ein Affront gegen Gottes Willen sind. Angesichts der in den letzten 2000 Jahren unglaublich hohen Zahl sinnlos geopferter Menschen, Naturräume, Tiere und Pflanzen, könnte ich verstehen, dass der Gekreuzigte seinen Halt verliert, dass sich "Erschöpfung", "Ermüdung" und "Überdruss" bei ihm einstellen. Haben wir wirklich verstanden, wenn wir wieder einmal vor einem Wegkreuz, oder in einer Kirche vor einem Kruzifix stehen? "Kei Luscht!", meinte einst ein Bundesrat. Mich würde nicht überraschen, wenn der Gekreuzigte in zunehmender Weise unter "Lustlosigkeit" leiden würde. (Was für ein skurriler Satz und Gedanke: "Kei Luscht" aufs Weiterleiden am Kreuz, für eine Menschheit, die das Leiden nicht beenden will.)
Dieses Werk von Floriane Tissières kann aber auch als Gleichnis für den Niedergang des Christentums in der westlichen Welt stehen. Unsere Gesellschaft ist "abgestumpft", kann die "abgedroschenen" Floskeln nicht mehr hören. Der eigentlich Sinn des Glaubens ist für viele nicht mehr ersichtlich. In ihren Augen hat der Heiland der Kirche den Halt am Kreuz verloren. Mehr und mehr Menschen setzen in der Steuererklärung bei der Frage nach der Konfession ihr Kreuz (!) neben "keine" oder "andere". Das ist die Realität. Dagegen möchte ich glauben, dass Gott sich weiter für uns Menschen interessiert, dass er unser nicht überdrüssig geworden ist, dass er die Lust nicht verloren hat, uns nahe zu bleiben, gerade auch im Leiden. Ich möchte glauben, dass er noch nicht "abgestumpft" vom Unsinn und Unfrieden sich einfach hängen lässt und sich lebensmüde aus unserem Alltag davonschleicht. Ich möchte glauben... und so übe ich den Glauben weiterhin.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen
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