Donnerstag, 13. Juli 2023

Die unbekannte Testperson

Ein Zitat

Die jungen Halsbandschwindlinge sehen wie kleine Patisson aus. Sie werden nur 1,5 cm im Durchmesser gross.
Foto © Jörg Niederer
"Wer ein Erstling ist, der wird immer geopfert." Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844 - 1900)

Ein Bibelvers - 1. Petrus 3,18

"Christus hat einmal für die Sünden gelitten: Der Gerechte litt für die Ungerechten. So sollte er euch zu Gott führen: Sein Körper wurde zwar am Kreuz getötet, aber durch den Geist Gottes wurde er wieder lebendig."

Eine Anregung

Halsbandschwindlinge sind hübsche kleine Pilze. Ihre Fruchtkörper haben gerade einmal 0,5 bis 1,5 Zentimeter Durchmesser. Die Wissenschaft hat in ihnen ein einzigartiges Peroxidaseenzym entdeckt. Wozu es genau nützlich sein könnte, weiss man noch nicht. Die Pilzchen leben auf dünnen, am Boden liegenden Laubholzästchen. Bei Trockenheit können die Fruchtkörper vorübergehend einschrumpfen, scheinbar dahinschwinden. Sobald ihre Umgebung wieder feucht wird, leben sie wieder auf.

Die Pilze sind nicht giftig, aber auch nicht essbar; also ungeniessbar. Sie riechen nicht und schmecken mild. 

Bei diesen Erkenntnissen frage ich mich jeweils, wer wohl zum ersten Mal an diesem Pilzchen gerochen hat, wer es in den Mund genommen, darauf herumgekaut und wohl auch heruntergeschluckt hat? Der oder die Erste hat sich damit einer grossen Gefahr ausgesetzt. Der Pilz hätte hochgiftig sein können. So wie der Knollenblätterpilz. Dessen Giftstoffe, die Amatoxine, zerstören die Leber. Sechs bis zwölf Stunden erst nach dem Essen kommt es vorübergehend zu Symptomen wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall und Wahnvorstellungen. Nachdem diese Symptome abgeklungen sind, beginnt weitere 12 Stunden später die Zerstörung der Leber.

Wer wohl hat zum ersten Mal solche Vergiftungserscheinungen mit dem Essen des Knollenblätterpilzes in Verbindung gebracht? Hat er oder sie überlebt? Haben aus seinem Tod andere gelernt, diesen Pilz zu meiden?

Vielleicht könnte man sogar sagen, dieser Mann oder diese Frau hat ihr Leben für viele andere Menschen gegeben. Er oder sie hat sich geopfert. Er oder sie wurde zum Opfer, das Leben rettet.

Diese Vorstellung, das einer sein Leben gibt für viele, findet sich auch im christlichen Glauben. Dort spricht man in diesem Zusammenhang von Jesus Christus, der für die Sünden der Welt am Kreuz gestorben ist. Man könnte sagen, Christus hat die giftige Wirkung der Menschheit durch sein Sterben neutralisiert.

Ich gebe zu, das ist ein verstörender theologischer Gedanke. Gerne hätte ich die Erlösung der Menschheit ohne Opfer. Aber das geht wohl nicht. Denn mindestens einer oder eine muss erst die Giftigkeit am eigenen Leib erfahren, bevor die andern sich darüber bewusst werden konnten.

Aber auch das gilt: Jetzt wo wir uns über die Giftwirkung mancher Pilze bewusst sind, muss niemand mehr daran sterben. Es braucht keine weiteren Opfer mehr. Auch in theologischer Hinsicht nicht.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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