Dienstag, 2. Mai 2023

Wiborada ist in der Marktwirtschaft angekommen

Ein Zitat

Die Wiboradatreppe führt etwas versteckt zur Kirche St. Mangen hinauf.
Foto © Jörg Niederer
"'I Adore You' soll feministisches Gedenken und weibliches Vorbild evozieren." "I Adore You" ist eine Performance von Lika Nüssli zu Wiborada in der Stadt St. Gallen.

Ein Bibelvers - Galater 5,13

"Brüder und Schwestern, ihr seid zur Freiheit berufen! Aber benutzt eure Freiheit nicht als einen Vorwand, um eurer menschlichen Natur zu folgen. Dient euch vielmehr gegenseitig in Liebe."

Eine Anregung

Wiborada, eine Märtyrerin aus St. Gallen, ist in der Marktwirtschaft angekommen. Den Eindruck bekommt man, wenn man über den Dialogtag im Square der Uni St. Gallen liest. Da heisst es: "Wiborada soll so bekannt werden wie Gallus und Otmar". So habe man diskutiert, "...wie man das spirituelle und touristische Potenzial der ersten heilig gesprochenen Frau der Welt besser nutzen könnte".

Am vergangenen Freitag liess sich auch in diesem Jahr wieder ein Mann für eine Woche in die Wiboradazelle hinter der Kirche St. Mangen einschliessen. Weitere Männer werden folgen. Soweit so spirituell.

Am Tag zuvor plädierte Daniel Wirth im St. Galler Tagblatt dafür, dass die geplante neue grosse St. Galler Bibliothek nur nach Wiborada benannt werden könne. Die Bäckerei Gschwend hat ein Wiborada-Dinkelbrot im Verkauf. Es gibt eine Wiboradakapelle, einen Wiboradaplatz mit Wiboradabrunnen, eine Wiboradatreppe. Was soll noch kommen? Der Wiborada-Haarschnitt? Nähen mit Wiborada? Wohnungsräumung nach Wiborada?

Nun habe ich St. Gallen auch schon als Wiboradastadt bezeichnet. Ich finde, diese Frau ist wirklich eine spannende historische Gestalt. Doch es ist schon sehr speziell, wie sie nun vermarktet und von allerlei Seiten in Beschlag genommen wird. Wohlgemerkt eine Frau, die sich freiwillig einschliessen liess in eine Zelle; die sich also aus der Gesellschaft und Wirtschaft weitgehend zurückgezogen hatte. Das ist nicht gerade das Bild einer modernen Frau von heute. Und ausgerechnet diese frühmittelalterliche, verschleierte Frau wird nun zum ökumenischen Symbol für die feministische Befreiung in der Kirche! Ausgerechnet diese Asketin soll die Wirtschaft St. Gallens ankurbeln?

Ich bin realistisch genug, um zu verstehen, dass die Vermarktung von Wiborada tatsächlich dazu beitragen könnte, im religiösen Kontext Frauen (und Männern) eine neue Bedeutung zu geben. Aber vielleicht wird Wiborada gerade dadurch noch einmal zur Märtyrerin; geopfert für die Prosperität einer Stadt. Sie, die Menschen vor dem Tod bewahrte, aber auch den St. Galler Kirchenschatz und die wertvollen Handschriften des Klosters vor dem marodierenden ungarischen Heer rettete.

Wer mehr über Wiborada wissen möchte: In einem in diesem Jahr entstandenen Animationsfilmchen erfährt man das Wesentliche zur Heiligen.

Aus evangelischer Sicht erfährt man in einem Beitrag aus dem Jahr 2021 zusätzliche historische Details.

Und heute am Wiboradatag pilgern wieder Frauen und Männer für das Anliegen einer Kirche mit den Frauen. Auf diesem Weg unter dem Motto aus Galater 5,13: "Zur Freiheit berufen" kann man sich an allen Stationen dem Pilgerzug anschliessen.

Ach ja, und dann ist da noch die Künstlerin Lika Nüssli, welche in der Stadt St. Gallen an verschiedenen Orten das Grab der Wiborada nachstellen wird.

Bei soviel Betriebsamkeit um Wiborada sollte doch wirklich für uns alle etwas Anregendes dabei sein, sei es touristisch, spirituell oder emanzipatorisch.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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