Ein Zitat
"Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sieht." Christian Morgenstern (1871-1914)Foto © Jörg Niederer
Ein Bibelvers - Lukas 24,30+31
"Später ließ er [Jesus] sich mit ihnen [den Emmausjünger] zum Essen nieder. Er nahm das Brot, dankte Gott, brach das Brot in Stücke und gab es ihnen. Da fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen, und sie erkannten ihn. Im selben Augenblick verschwand er vor ihnen."
Ein Anregung
An der Thur bei Frauenfeld bin ich gestern dem österlichen Symbol, dem Feldhasen begegnet. Natürlich stand ich ganz still, und so bemerkte das von Natur aus kurzsichtige Tier mich nicht, obwohl ich ohne Deckung war. Er spazierte bis auf 5 Meter heran, bevor er sich für eine andere Richtung entschied.
Der Hase ist ein Bewegungsseher. Dabei hat er den totalen Überblick, genauer, den Rundumblick. Das sieht man gut, wenn man ihn von hinten betrachtet. Selbst dann sind beide Augen zu sehen. Hätte ich mich bewegt, er hätte mich gesehen, auch als er von mir weg davonhoppelte.
Wir Menschen sehen scharf, aber nur in eine Richtung. 214 Grad beträgt das horizontal Sichtfeld und das vertikale im besten Fall 150 Grad. Was direkt in unserem Rücken geschieht, bleibt uns meist verborgen. Wir sehen also einseitig. Um den Überblick zu wahren, müssen wir den Kopf drehen, müssen uns bewegen, müssen aktiv hinschauen, die Position ändern.
Das ist auch im übertragenen Sinn so. Wir positionieren uns in sozialen Bubbles. Gemeint ist ein Umfeld, in dem wir nur noch mit Gleichgesinnten verkehren. Andere sprechen dabei von "Milieus". Unser soziales Umfeld bestimmt, was wir zu sehen bekommen und was wir glauben. Das ist aber nie die ganze Wahrheit. Das ist nur der Teil, den wir ohne Anstrengung erkennen können.
Die beiden Emmausjünger sind dafür ein gutes Beispiel. Sie sahen erst nur das, was sie glauben wollten: "Jesus ist am Kreuz gestorben". Dass er schon die ganze Zeit bei ihnen war, passte nicht in ihre Weltsicht. Doch dann kam es zur entscheidenden Sichtveränderung. Sie wurde durch eine Bewegung von Jesus ausgelöst. Er brach das Brot. Da sahen und erkannten ihn die beiden Männer. Sie änderten umgehend ihre Bewegungsrichtung, kehrten um, voller Hoffnung. Mit andern Worten: Um die ganze Wahrheit von Ostern erkennen zu können, müssen wir uns bewegen, müssen wir umkehren.
Übrigens: Der (Oster-)Hase ist in Sachen "umkehren" ein grosser Meister. Keiner ist wie er Experte bei hackenschlagenden Richtungsänderungen.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde
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