Dienstag, 20. August 2024

Die Opferung des Ismael

Ein Zitat

Bildteil des Erkers vom Haus zur Hagar in Schaffhausen.
Foto © Jörg Niederer
"Gewalt ist die letzte Zuflucht des Unfähigen." Isaac Asimov (1920-1992)

Ein Bibelvers - 1. Mose 21,17+18

"Als Gott das Weinen des Jungen hörte, rief ein Engel Gottes vom Himmel her zu Hagar: 'Hagar, was ist mit dir? Fürchte dich nicht! Gott hat das Weinen des Jungen gehört, der dort liegt. Steh auf, heb den Jungen hoch und halt ihn fest in deinen Händen! Denn ich will ihn zum Stammvater eines großen Volkes machen.'"

Eine Anregung

In Schaffhausen gibt es das Haus zur Hagar an der Vorstadt 18. Früher gehörte dessen Fassade zu den Schönsten (hier eine historisches Gemälde zum Hagarhaus!), ähnlich der des Hauses zum goldenen Ochsen oder des Hauses zum Ritter. 1836 wurde die Fassade umfassend verändert. Geblieben ist eine nüchterne Gleichmässigkeit und ein Erker, der mit der einstigen Bilderpracht des Hauses nicht mithalten kann. Im Inneren sind noch Stuckaturen von herausragender Pracht erhalten geblieben. Es sind die ersten Arbeiten von Samuel Höscheller (1630-1713/15) in Schaffhausen. 

Doch zurück zum Erker, so wie er sich heute darstellt. Darauf zu finden sind zwei Szenen aus der Geschichte der Vertreibung von Hagar und Ismael. Für alle, die diese Geschichte nicht kennen, eine ganz kurze Zusammenfassung: Sarah, die Frau Abrahams kann nicht schwanger werden. Da zeugt auf Sarahs Geheiss Abraham mit der Sklavin Hagar seinen ersten Sohn Ismael. Als Sarah durch göttliches Eingreifen im hohen Alter dann doch noch den Isaak gebiert, kommt es zur Vertreibung der Hagar. Sarah ist die treibende Kraft, dass Hagar und Ismael von Abraham fortgeschickt werden und in der Folge beinahe in der Wüste sterben.

Aus dieser Geschichte sind die beiden Szenen, die sich heute als Steinmetzarbeiten auf dem Erker befinden. Links wird Hagar mit Ismael von Abraham vertrieben. Sarah steht teilnahmslos dabei, ein Hund ergänzt die Szene. Vom Hund ist auf der zweiten, rechten Darstellung nichts mehr zu sehen. Es handelt es sich um den Moment, als ein Engel der zum Sterben bereiten Hagar in der Wüste begegnet und ihr einen Brunnen zeigt, dessen Wasser Leben für sie selbst und Ismael bedeuten.

Diese Szene erinnert mich gestalterisch an die Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham. Der Vater Abraham erhält von Gott den Auftrag, den einzigen Sohn, den er mit Sarah gemeinsam hat, Gott zu Opfern. Im letzten Moment wird er von einem Engel davon abgehalten.

Im Islam ist der Sohn, der von Abraham geopfert werden soll gemäss Auslegung aber nicht Isaak, sondern Ismael. Ob der mir unbekannte Künstler sich von dieser Opferung des Ismaels leiten liess, als er die Szene mit Hagar, Ismael und dem Engel in der Wüste am Erker anbrachte, weiss ich nicht. Durch die Vertreibung von Hagar und Ismael opfert Abraham ja tatsächlich seinen Erstgeborenen. Und die Mutter Hagar wird zur tragischen Vollstreckerin des Todesurteils. Sie legt ihren Sohn zum Sterben etwas abseits, weil sie mit dieser Situation total überfordert ist. Wer kann es ihr verübeln.

Hagar und Ismael sind Opfer. Abraham ist der Täter. Einmal auf Geheiss der Hauptfrau, dann weil Gott ihn prüfen will. Sarah ist Opfer und Täterin. Einmal verlangt sie den Tod des Ismael (und der Hagar), dann wird ihr beinahe der einzige eigene Sohn Isaak durch ihren Mann Abraham (und Gott) genommen. Eine der verrücktesten Familiengeschichten, die ich kenne. Heute bezeichnen wir solche Geschehnisse als häusliche Gewalt. Zugleich sind da drei Religionen, die sich von genau diesen Geschichten und Personen her definieren. Am Anfang der jüdischen, christlichen und islamischen Glaubensgemeinschaften steht eine familiäre Gewaltgeschichte voller Vertreibung und Verblendung. Das prägt die jüdischen, christlichen und islamischen Gesellschaften bis heute.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen