Sonntag, 4. August 2024

Das Chappeli von Leutmerken

Ein Zitat

Die Kapelle "Maria am hohen Weg" zwischen Leutmerken und Griesenberg.
Foto © Jörg Niederer
"Die besonders familiäre Gottesdienst-Atmosphäre an diesem idyllischen Gnadenort lockt immer wieder Pilger und Pilgerinnen von nah und fern zur besinnlichen Einkehr." Webseite des Pastoralraums Nollen-Lauchental-Thur

Ein Bibelvers - Klagelieder 1,12

"Ihr alle, die ihr auf dem Weg vorbeikommt, seht her und schaut es euch an: Gibt es einen größeren Schmerz als meinen, den Schmerz, den ich erleiden musste?"

Eine Anregung

Unweit von Leutmerken im Kanton Thurgau, am Feldweg zum Schloss und Weiler Griesenberg (Über diesen Ort werden ich in einem späteren Beitrag noch mehr erzählen.), steht die Kapelle "Maria am hohen Weg". Sie ist üblicherweise nicht geöffnet. Da nicht weit entfernt davon der Schwabenweg, ein Teilstück des internationalen Jakobswegs vorbeiführt, kann vermutet werden, dass hier seit vielen Jahren auch immer wieder Pilger vorbeikamen.

Nun liegt die Kapelle am Stählibuckweg, ein noch nicht lange ausgeschilderter Wanderweg, den man mit etwas Kondition in einem Stück von Amlikon über den Stählibuck nach Frauenfeld bewältigen kann.

Auf der anderen Seite des Wegs, dem Chappeli, wie das kleine Gotteshaus auch genannt wird, gegenüber und flankiert von zwei Zypressen, steht ein Wegkreuz aus dem Jahr 1886 mit einem vergoldeten Gekreuzigten. Dort lese ich: "O ihr Alle, die ihr am Wege vorbei geht, gebet Acht u. schauet ob ein Schmerz ist gleich meinem Schmerze." Der Text aus Klagelieder 1,12 findet in der Bibel eine Fortsetzung in den Worten: "Der Herr selbst hat ihn [den Schmerz] mir zugefügt am Tag seines unbändigen Zorns." 

Mit diesen Worten wird, was sich anfänglich als Aufforderung zu einer Schmerzensmann-Meditation liest, zu einem komplexen theologischen Problem. Fügt Gott Menschen in seinem Zorn Schmerzen zu? Muss jemand Schmerzen leiden, um Gottes Zorn zu besänftigen? Können diese Worte aus den vorchristlichen, jüdischen Klageliedern auf den gekreuzigten Christus bezogen werden? Denn in den Klageliedern wird anlässlich der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier im Jahr 586 v. Christus das Schicksal des Königreichs Juda (und nicht das Schicksal von Jesus!) von A bis Z durchbuchstabiert. Also eine ganz andere Zeit und eine ganz andere Situation ist mit diesen Worten beschrieben. Letzte Frage: Was hat ein als vor Gott schuldig verstandenes Volk Juda mit dem unschuldig leidenden und sterbenden Christus zu tun?

Viele Fragen sind das. Genug, um einen ganzen Sonntag lang darüber zu sinnen. Am Besten an einem so meditativen Ort wie bei Chappeli, dort auf dem Weg zwischen Griesenberg und Leutmerken.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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