Donnerstag, 22. August 2024

Bundesrat Rösti, Schmetterlinge und die schleichende Normalität

Ein Zitat

Ein Russischer Bär und eine Mistbiene laben sich an den Blüten des gewöhnlichen Wasserdosts.
Foto © Jörg Niederer
"Wenn ich auf die Alp gehe, sehe ich nicht weniger Schmetterlinge als früher." Bundesrat Albert Rösti zur Biodiversitätsinitiative

Ein Bibelvers - Offenbarung 8,8+9

"Dann ließ der zweite Engel die Trompete erschallen. Da wurde etwas ins Meer geworfen, das glich einem großen Berg aus Feuer. Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. Ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, starb. Und ein Drittel der Schiffe wurde zerstört."

Eine Anregung

Wenn ich von meiner Wohnung auf die Nebenstrasse davor hinunter schaue, dann hat es da nicht mehr Autos als vor 15 Jahren. Also kann es noch nicht so weit her sein mit der Überlastung der Autobahnen. Es braucht keinen weiteren Ausbau. "Halt" werdet jetzt einige sagen, so geht das nicht. Von einer Nebenstrasse auf die Autobahn schliessen ist nicht statthaft. Das ist Äpfel mit Birnen vergleichen.

Genau so argumentierte aber Bundesrat Albert Rösti, als er sich gegen die Biodiversitätsinitiative aussprach. Als Argument, dass es noch gut stehe um die Biodiversität in der Schweiz, meinte er: "Wenn ich auf die Alp gehe, sehe ich nicht weniger Schmetterlinge als früher." Nun mag es sein, dass es auf einer traditionell bewirtschafteten Alp (keine Düngung, nur ein Schnitt pro Jahr) noch viele Schmetterlinge gibt. Aber das sind in der Schweiz zwischenzeitlich die Ausnahmen. Von diesen relativ intakten Weiden auf den Gesundheitszustand der gesamten Natur in der Schweiz zu schliessen, ist schlicht unseriös. Wissenschaftliche Studien habe gezeigt, dass die Masse der Fluginsekten in den letzten 27 Jahren um 76% zurückgegangen ist. Bei den Insekten und damit auch bei den Schmetterlingen sind 40% gefährdet oder ausgestorben und 13% potentiell gefährdet. Ältere Autofahrer können sich diese Veränderung auf einfache Weise bewusst machen, wenn sie an die vielen Insekten denken, die sie früher tot von der Windschutzscheibe wegputzen mussten. Davon ist heute keine Rede mehr.

Viele Menschen haben aber immer noch den Eindruck, der Natur in der Schweiz gehe es gut. Es ist ja alles so schön grün hier. Aber Grün heisst nicht gesund. Grün ist Eintönigkeit. Die Natur ist nicht eintönig. Die intakte Natur ist bunt.

Vermutlich hat Bundesrat Rösti noch in einer zweiten Weise unrecht. Wie viele Menschen leidet er unter dem, was man in der Wissenschaft "schleichende Normalität" nennt. Weil die Veränderungen in der Natur aus der Wahrnehmung von Menschen so langsam vor sich gehen, dass wir sie kaum feststellen können, haben wir den Eindruck, es sei noch so wie früher. Da kann schon der Eindruck aufkommen, auf Röstis Alp gäbe es nicht weniger Schmetterlinge als früher. Aber ist das auch so? Dazu hätte Bundesrat Rösti früher schon sichere Daten erheben müssen, und seine Folgerung nicht nur abstellen auf einen subjektiven Eindruck einer verblassten Erinnerung. Weiter haben jüngere Menschen gar keine eigenen Vergleichsmöglichkeiten mit dem Zustand der Welt vor ihrer Geburt. Sie kennen nur das Heute, und das ist für sie Normalität. Sie haben einen verschobenen Ausgangspunkt bei der Beurteilung der Situation.

Wir leben aber nicht in der biodiversen Normalität. Wir leben in einem Land, in dem es dramatisch abwärts geht mit der Lebensvielfalt. Da mag es weniger belastete Inselvorkommen von Pflanzen und Tieren geben, aber der Normalfall ist der dramatische Rückgang an Vielfalt und Leben auf unserem Planeten. Die Schweiz steht dabei im europäischen Vergleich erbärmlich schlecht da.

Darum stehe ich mit hundertprozentiger Überzeugung hinter der Biodiversitätsinitiative. Ich liebe Gottes Schöpfung. Es tut mir weh, wie damit in den letzten Jahren in der Schweiz umgegangen wurde. Wenn wir jetzt nicht beginnen, ernsthaft und fürsorglich für eine intakte Umwelt bei uns zu sorgen, werden schwere Zeiten auf uns zukommen. Es geht wieder einmal - wie bei der Klimaerwärmung durch den menschgemachten Treibhausgasausstoss - um das längerfristige Wohl von uns allen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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