Freitag, 3. März 2023

Der zweite und der dritte Blick

Ein Zitat

Olten bei Nacht
Foto © Jörg Niederer

"Mache ein unterbelichtetes Foto, damit die Highlights gut aussehen, und ein überbelichtetes Foto, damit die Schatten richtig sind. Kombiniere dann die besten Teile jedes Fotos."
Aus der Anleitung zu einer fotografischen Belichtungsreihe

Ein Bibelvers - Matthäus 21+22

"Da wandte sich Petrus an Jesus und fragte ihn: 'Herr, wenn mein Bruder oder meine Schwester mir Unrecht tut, wie oft soll ich ihnen vergeben? Bis zu siebenmal?' Jesus antwortete: 'Nicht nur siebenmal! Ich sage dir: Bis zu siebenundsiebzigmal!'"

Eine Anregung

Die menschliche Wahrnehmung setzt ununterbrochen Bilder der Welt zusammen. So haben wir den Eindruck, dass unsere Augen eine grosse Schärfentiefe und Helligkeitsdifferenz wahrnehmen können. Doch dieser Umfang an Details erfassen wir, weil wir in sehr kurzer Zeit unterschiedliche Bilder zu einer Gesamtsicht zusammenfügen. 

Mein Mobiltelefon kann das auch. Bei Nachtaufnahmen erstellt es eine Folge von unterschiedlich belichteter Bilder und fügt diese dann zu einem Einzelbild zusammen. Dieses Einzelbild ist dann meist heller und detailreicher, als der Blick von blossem Auge. Als ich gestern das Bild von Olten mit der Alten Brücke und dem erneuerten Aare-Fussgängerweg fotografierte, lag die Altstadt im Dunkeln, der Stadtturm etwa wurde an diesem Wochentag nicht beleuchtet. Doch das Städtchen wirkt auf der Fotografie, als würde es von unzähligen Lichtquellen hell erleuchtet.

Auch in übertragener Weise macht es Sinn, wenn wir einen zweiten und dritten Blick auf ein Ereignis, eine Gegebenheit riskieren. "Schau genau hin!" wurde ich immer einmal wieder aufgefordert. Oft ist die Sache nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Gehe ich einen Weg mehrfach, werde ich immer wieder Neues entdecken. Dunkle Stellen der Erkenntnis werde ausgeleuchtet; eine neue Sicht auf die Dinge entsteht. Ich kann das Beste aus verschiedene Sichtweisen kombinieren.

Heute will versuchen, bewusst und genau hinzuschauen, und vor allem Menschen nicht nach dem ersten Eindruck zu beurteilen. Ich möchte die Gestalt und Grösse ihres Herzens entdecken, auf die Tiefe und Weite ihres Lebens schauen, das erkennen, was nicht einfach so vor Augen ist. Ich glaube, wir alle verdienen eine zweite und dritte und vierte und fünfte Sichtweise auf unser Leben.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen