Ein Zitat
Foto © Jörg Niederer |
Ein Bibelvers - Hohelied 4,11
"Von Honig triefen deine Lippen, meine Braut. Wie süße Honigmilch schmeckt deine Zunge, und deine Kleider duften nach dem Libanon."
Eine Anregung
Wilen ist ein Vorort von Wil SG. Eine kleine Gemeinde, viele Villen. Ein weiteres, unauffälliges Dorf, wie so manches in der Schweiz. Um so überraschter bin ich, hier dem Dichter der Biedermeierzeit, Eduard Mörike (1804-1875) zu begegnen, und das, obwohl der bedeutende Lyriker und evangelische Pfarrer Zeit seines Lebens nie einen Fuss an diesen Ort gesetzt hatte. Den Thurgau bereiste er schon. Dazu mehr in einem späteren Beitrag.
Dass Mörike in Wilen präsent ist, verdankt er seiner Jugendliebe Anna Maria Meyer (1802–1865). Die gebürtige Schaffhauserin lebte hier mit ihrem späteren Ehemann, dem Tischler Andreas Kohler im Haus Peregrina. Vor diesem Haus stehe ich nun, und lese auf einer Inschrift von der "leidenschaftlich-leidvollen Begegnung der Jahre 1823 bis 1826 zwischen Maria Meyer und dem schwäbischen Dichterfürsten". Mörike verlieh Maria Meyer Unsterblichkeit in seinem Erstling und einzigen Roman "Maler Nolten". Darin ist sie in der Gestalt einer Landstreicherin, der "Peregrina" beschrieben.
Tatsächlich war Maria Meyer in ihren Jugendjahren eine Herumtreiberin und Landstreicherin. Geboren in bürgerlicher Familie als uneheliches Kind hatte sie es nicht leicht. Ihre Mutter wurde als stadtbekannte Hure auf unbestimmte Zeit ins Arbeitshaus eingewiesen. Die in der Jugend zu Diebstählen neigende Maria landete im Gefolge der von den Herrnhutern inspirierten Wanderpredigerin Baronin Barbara Juliane von Krüdener (1764-1824) ein reiche adlige Witwe aus Riga, eine Pietistin und religiöse Mystikerin. Die Zeit mit dieser spannenden, auch sozial tätigen und polarisierenden Person prägte Maria, sang sie doch später in Haushaltdiensten oft geistliche Lieder aus dieser Bewegung. Wie sie sich Lesen und Schreiben beigebracht hatte, weiss niemand so recht. Ohnmachtsanfälle, echt oder vorgetäuscht – die Literaturwissenschaft ist sich da nicht einig – führten Maria immer wieder zu hilfsbereiten Menschen. So landete die bildhübsche Frau mit 21 Jahren in Ludwigsburg als Kellnerin in der Wirtschaft "Zum Holländer" wo sie Eduard Mörike begegnete, der sich unsterblich und letztlich unglücklich in die unstete Person verliebte. Beschrieben wird sie in der Folge in einem Gedichten von Mörikes Freund Ludwig Bauer als Heilige, Wahnsinnige und Sünderin.
Nun, irgendeinmal wurde auch Peregrina sesshaft, und zwar in Schaffhausen, Winterthur und schlussendlich im Thurgau, eben in Wilen bei Wil, in einem einfachen Haus, in dem ihre Erinnerung bis heute wach geblieben ist. Auch Mörike fand noch ein spätes Glück in der Ehe. Als er in jener Zeit die Schweiz bereiste, hielt er sich mehrere Wochen nur weinige Kilometer von Peregrina entfernt in Kreuzlingen auf. Doch da er nichts von dieser Nähe wusste, hätte er ebensogut auch am anderen Ende der Welt gewesen sein können, es hätte nichts geändert am Leben der Maria Meyer.
Wer eine Kurzfassung von Maria Meyers Geschichte lesen möchte, kann ins Thurgauer Jahrbuch von 2010 schauen. Der Artikel "Der Dichter Eduard Mörike und seine Jugendliebe Maria Meyer im Thurgau" ist auch online verfügbar.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde
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