Sonntag, 12. März 2023

Fritzli

Ein Zitat

Das heute zurechtgemachte markante Mehrfamilienhaus in Olten nannten wir in meiner Kindheit nur "Kaserne". Damals wohnten in dem heruntergekommenen Wohnblock Gastarbeiter unter ärmlichen Bedingungen.
Foto © Jörg Niederer
"Die Krankheit gehört zu mir – das bin ja ich." Sarah Staub

Ein Bibelvers - Jesaja 53,3

"Er wurde von den Leuten verachtet und gemieden. Schmerzen und Krankheit waren ihm wohl vertraut. Er war einer, vor dem man das Gesicht verhüllt. Alle haben ihn verachtet, auch wir wollten nichts von ihm wissen."

Eine Anregung

Wir nannten das markante und heruntergekommene Haus mit den wohl hundert Kleinstwohnungen "Kaserne". Als Kind dachte ich dabei an Soldaten; mein Vater dagegen dachte an eine Mietskaserne. Dort lebten die Gastarbeiter unter ärmlichen Verhältnissen. Wir wohnten kleinbürgerlich, gut 500 Meter westlich davon. Ging man von der Mietskaserne zu uns hinunter, kam man zuerst in das Gebiet der Kinder, mit denen wir harmlose Strassenschlachten ausfochten. Dann kamen die Kinder, mit denen wir zusammen auf der Strasse vor dem Haus spielten. Und dann kamen die Kinder auf der anderen Seite des Wilerwegs, mit denen wir nur ausnahmsweise zusammen etwas unternahmen. Alle kannten sich, und alle grüssten sich. Darunter war auch einer, den alle nur Fritzli nannten. Fritzli war geistig behindert. Fritzli war für uns tabu. Mit ihm machte man keine Scherze, schon gar nicht auf seine Kosten. Niemand sagte etwa von ihm, er sei ein VEBO (Die Behindertenwerkstätte VEBO von einst nennt sich heute "Unternehmen der beruflichen und sozialen Inklusion für Menschen mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung"). Das sagte man nur zu "Gesunden", die man beleidigen wollte. Aber alle sagten im Fritzli. Wenn er vorbei kam, grüssten wir in: "Hallo Fritzli", und wechselten einige belanglose Worte. Das war so, als er 7 Jahre alte war, und es war so, als er 18 Jahre alt war. Er blieb der Fritzli, und wäre es wohl immer noch, wäre nicht eines Tage der Moment gekommen, als ich ihn wieder einmal mit den Worten grüsste: "Halle Fritzli, wie geht es?" Er hielt in seinem Gang inne, blickte mich an, und sagte mit seiner für einen Erwachsenen zu hohen Stimme so ernsthaft er nur konnte: "Ich bin jetzt erwachsen, ich möchte, dass du mich in Zukunft nicht mehr Fritzli sondern Fritz nennst." 

Unlängst bei einem Besuch in meiner Heimatstadt Olten sah ich ihn wieder. Wir beide sind nun 40 Jahre älter. Ich sah ihn, und freute mich. Er ist schon etwas Besonderes. Wohl deshalb habe ich ihn sofort wieder erkannt. Mich dagegen hat er nicht einmal beachtet. Ich war halt einfach nur einer von vielen, die ihm einst ohne böse Absicht "Fritzli" sagten.

Gerade habe ich mir eine Sendung angehört, in der es auch um Behinderung geht; nämlich um die Frage, was sich in unserem Denken und Handeln verändert, wenn wir uns Gott oder Jesus mit Behinderung vorstellen. In dieser Sendung von Radio SRF 2 bin ich auch wieder Sarah Staub begegnet, von der ich schon im gestrigen Beitrag geschrieben habe. Der Moderatorin erzählt sie, wie sie mit ihrer schmerzhaften Erbkrankheit umgeht, und wie sehr ihr dabei ein Buch und das Malen von Bildern geholfen haben. Ich kann diese Sendung nur wärmstens empfehlen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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