Ein Zitat
"Eine Angewohnheit kann man nicht aus dem Fenster werfen. Man muss sie die Treppe hinunterboxen, Stufe für Stufe." Mark Twain (1835-1910)Foto © Jörg Niederer
Ein Bibelvers - Psalm 102,26-27a
"Du [Gott] hast am Anfang die Erde gegründet, der Himmel ist das Werk deiner Hände. Eines Tages werden sie vergehen, du aber bleibst."
Eine Anregung
Ich weiss es nun schon 14 Jahre lang. Da wo wir wohnen, zählen die Treppen zwischen den einzelnen Stockwerken genau 15 Stufen. Von der Haustür zu unserer Wohnungstür sind es folglich 45 Stufen und aus dem Keller 60 Stufen. Daran ändert sich über die Lebensdauer des Hauses wohl kaum noch etwas. Und doch ertappe ich mich dabei, wie ich immer wieder die Stufen zähle, während ich zu meiner Wohnung hoch- oder von ihr hinabsteige. Als müsste ich mich vergewissern, dass wenigsten zuhause alles so bleibt, wie es ist.
Oder kommt es daher, dass ich mit zunehmendem Alter die oberste Treppenstufe sehnsüchtiger erwarte als früher? Oder ist es eine Form der Meditation, wobei ich jeden Schritt hinauf oder hinab als Teil meines Lebenswegs würdige? Natürlich könnte es auch ein Tick sein. Denn wirklich Sinn scheint die fast tägliche Treppenstufenzählerei nicht zu machen. Ich komme mir dabei vor wie in der Kindheit, als eine Märchengeschichte nur dann stimmte, wenn sie von der Mutter mit immer genau denselben Worten erzählt wurde. Nur dann befriedigte sie mich. Nur dann konnte ich sicher sein, dass das Gute am Ende wirklich auch siegen würde.
Was wäre, wenn im Treppenhaus zwischen den Stockwerken plötzlich eine der 15 Stufen fehlen würde? Würde ich eher an meiner Zählpräzision zweifeln oder an der Sicherheit des Treppenhauses? Immerhin ist zwei Häuser neben dem von uns bewohnten vor einigen Jahren das Treppenhaus in sich zusammengebrochen und hat dadurch schweizweite Aufmerksamkeit erlangt. Es kann also schon etwas passieren, selbst beim Festgefügten und scheinbar Unverrückbaren.
Möglicherwiese zähle ich auch deshalb Treppenstufen, weil es täglich auch gut tut, festzustellen, dass Dinge so bleiben wie sie sind, während um mich herum und an mir selbst laufend Veränderungen auftreten. Dann wäre ich auf der Suche nach einer Konstante im Leben, und die würde ich da suchen, wo ich sie am Wahrscheinlichsten finde, also im Treppenhaus. So gesehen wäre meine Treppenstufenzählerei einem Gebet ähnlich und das Treppenhaus ein Andachtsraum oder gar meine durchsteigbare Kirche. Das könnte mir wiederum Grundvertrauen und Hoffnung geben. Die Welt ist nicht ganz aus den Angeln.
All diesen Gedanken könnte ich natürlich gut aus dem Weg gehen, indem ich den Fahrstuhl benutze. Aber wie sang doch schon Hazy Osterwalder: "Der Fahrstuhl nach oben ist besetzt, sie müssen warten...", oder eben zu Fuss die Treppen hochsteigen, und dabei bei jedem Stockwerk auf Fünfzehn zählen.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen
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