Samstag, 1. Oktober 2022

Alte Bücher, alte Menschen

Ein Zitat

Aufgeschlagener Bildband über Kanada, gedruckt 1967 in der Schweiz.
Foto © Jörg Niederer
"Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern." André Malraux (1901-1976) Schriftsteller und Drehbuchautor

Ein Bibelvers - Psalm 119,100

"Ich bin einsichtiger geworden als die Alten. Denn ich habe deine [Gottes] Anweisungen befolgt."

Ein Anregung

Selbst gekaufte Bücher sind verräterisch. Ihr Alter erzählt auch etwas über das Alter der Besitzerin oder des Besitzers. Mit 8 Jahren habe ich mir einen Bildband über Kanada gekauft, ein teures Buch für einen kleinen Jungen. Einmal nach Kanada, das war mein Traum. Die Bilder haben mich fasziniert. Nun ist das Buch schon 55 Jahre alt und sieht auch so aus. Die Qualität der Fotos würden heute längst nicht mehr genügen. Die Sprache ist antiquiert und enthält heikle Worte. "Eskimo" zu sagen geht nicht mehr, da es eine abschätzige Bezeichnung ist, "Rohfleischesser" bedeutet. Heute werden die Ureinwohner oder Indigenen in Kanada als "First Nations" bezeichnet; oder bei dieser Menschengruppe präziser: "Inuit".

Als das Buch geschrieben wurde, steckte man die Kinder der Inuits in Schulheime, um ihnen den rechten American Way of Life beizubringen. Heute weiss man, dass dort viele von ihnen gequält worden waren, manche bis zum Tod. Auch von Kirchen wurden solche Schulen geführt.

Zurück zum alten Buch über Kanada. Wie die meisten Bücher zwar alt, aber nur selten eine Antiquität werden, so werden die meisten Menschen auch einfach nur alt. Ich bin mit dem Buch alt geworden. Genüge ich noch den Qualitätsansprüchen dieser Zeit? Wo stecke ich fest in überholten Erkenntnissen und Verhaltensweisen? Gut, ich konnte all die Jahre dazulernen, was ein Buch natürlich nicht kann.

Es gibt Bücher, die auch im Alter einen Wert haben, so dass es sich lohnt, wenn sie in Antiquariaten einer neuen Bestimmung entgegenwarten. Ist bei uns Menschen das Alters- und Pflegeheim das Pendant zum Buchantiquariat? Auch dort wird gewartet. 

Zu diesen nachdenklichen Fragen passt eine Beobachtung, die der ostdeutsche Kabarettist Bernd-Lutz Lange machen musste. Im Buch "Das gabs früher nicht" schreibt er: "Als ich 2015 nach einigen Jahren wieder zu Besuch in Zürich war und mit meinem Freund Hans den gewohnten Antiquariatsbummel machen wollte, da musste er meine Vorfreude gleich erst einmal dämpfen, denn drei von den sonst frequentierten Läden hatten in der schönen Altstadt inzwischen kapituliert." (Seite 63f).

In meinem Besitz gibt es auch alte Bücher, die ich sorgfältig hüte, weil ich sie irgendeinmal wieder ein zweites Mal lesen möchte. Dann bekommen sie ein neues, zweites Leben und ich vielleicht auch. Vielleicht ist dieses "Irgendeinmal" gerade heute, an diesem regnerischen Tag.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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