Freitag, 7. Oktober 2022

Eine Berliner Mauer in St. Gallen

Ein Zitat

Der kleine Rest der Scheidemauer zwischen Stadt und Kloster St. Gallen
Foto © Jörg Niederer
"Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!" DDR-Staats- und Parteichef Walter Ulbricht am 15. Juni 1961

Ein Bibelvers - 1. Mose 1,7+8a

"Gott machte das Dach und trennte das Wasser unter dem Dach von dem Wasser über dem Dach. Gott nannte das Dach 'Himmel'."

Ein Anregung

240 Jahre lang teilte eine Mauer St. Gallen in zwei Teile. Auf der einen, äusseren Seite die reformierte Stadt, auf der anderen, inneren Seite die Fürstabtei. Von 1567 bis zur Aufhebung aller Klöster in der Schweiz im Jahr 1805 schied sie die konfessionellen Lager.

Auslöser, um die Mauer zu bauen, waren Übergriffe und politische Entscheide. Als am 16. Oktober 1565, dem Festtag von St. Gallen, ein neuer Abt eingesetzt werden sollte, just zur Zeit, als in der protestantischen Stadt eine wichtige landwirtschaftliche Herbstmesse stattfand, verbot die Stadtbehörde das Feiern der Messe und den Bürgern den Besuch des Klosters. Damit sollten zwar Ausschreitungen verhindert werden. Doch diese Klosterblockade kam in der Fürstabtei nicht gut an. Und so wurde an einer Tagsatzung den Katholiken ein Korridor gewährt durch das extra errichtete Karlstor, durch das Bewohnerinnen und Bewohner ohne Einwilligung der Stadtbehörde ins Kloster gelangen konnten. Ein weiterer Vertrag garantierte ab 1566 sowohl der Stadt als auch dem Kloster die Unabhängigkeit. Um weitere Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten zu verhindern, wurde ein Jahr später die Mauer gebaut. Heute ist nur noch ein kleines Stück davon an der Gallusstrasse erhalten. 

Die Mauer habe auch den Kanton St. Gallen vor einer Spaltung bewahrt. Sonst gäbe es heute vielleicht ein St. Gallen Ausserrhoden und ein St. Gallen Innerrhoden. (Die ganze Geschichte über die Scheidemauer kann auf swissinfo nachgelesen werden.)

Auch wenn die Mauer vor Gewalt bewahrte, würde ich sie nicht als Friedensmauer bezeichnen. Dafür ist sie zu lange zwischen den konfessionellen Lagern gestanden.

Heute treffen sich in den Häusern entlang dieser Scheidemauer Menschen in Gaststätten. Niemand fragt nach katholisch oder reformiert. Aus meiner Sicht ist das eine gute versöhnliche Entwicklung. Statt sich durch die Mauer nicht die Köpfe einzuschlagen, prosten sich dank der Mauer Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen friedlich zu.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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