Sonntag, 16. Oktober 2022

Die Anasazi vom Valle de Vaux

Ein Zitat

Über den Sandstein-Überhängen, unter denen im Neolothikum und nach der Römerzeit einst Menschen siedelten. Unten: Das Modell der Abri-Siedlung befindet sich im Musée cantonal d'archéologie et d'histoire in Lausanne.
Foto © Jörg Niederer
"Folgten wir nur der Tradition, lebten wir noch immer in Höhlen, folgten wir nur dem Fortschritt, wäre dies bald wieder der Fall." Leszek Kolakowski (1927-2009), polnischer Philosoph

Ein Bibelvers - Psalm 142,1+2

"EIN WEISHEITSLIED, VON DAVID, ALS ER IN DER HÖHLE WAR, EIN GEBET. Aus voller Kehle schreie ich zum Herrn. Laut flehe ich zum Herrn um Gnade."

Ein Anregung

Die Anasazi, das waren Ureinwohner in den US-Bundesstaaten Utah, Colorado, New Mexico und Arizona, welche in den Schluchten des Colorados unter Überhängen schwer zugängliche Siedlungen bauten und bewohnten. 

Nun habe ich neu erfahren, dass zur selben Zeit (vom 4. bis 8. Jahrhundert nach Christus) auch in der Schweiz solche Siedlungen existierten. Konkret fand man im Valle du Vaux (zwischen den waadtländischen Orten Yvonand und Chavannes-le-Chêne gelegen) Siedlungsreste von Menschen, die dort unter den Sandsteinüberhängen in mehrstöckigen Holzhäusern lebten. Wie die Anasazi betrieben sie Landwirtschaft und gingen auf die Jagd. Auch der Vaux-Bach war wohl eine wichtige Lebens- und Nahrungsgrundlage für die dortigen Siedlerinnen und Siedler.

Doch sie waren nicht die ersten. Mit einigen ihrer Pfostenlöcher, die sie in die Felsen meisselten, zerstörten sie Teile einer in den Fels gravierten bronzezeitlichen Jagdszene, bei der Männer auf Pferden Hirschen nachjagten. Auch ein Hund ist auf diesem Bild zu erkennen. 

Weitere Funde belegen, dass in diesem Abri oder Balm, wie man einen solchen Felsüberhang bezeichnet, schon um 4200 vor Christus Menschen wenigsten vorübergehend siedelten. Dafür sprechen Keramikfunde, Schalensteine und geometrische Gravuren. 

Heute führt kein Weg mehr zu den Fundorten. Das Tal des Vaux-Baches ist ein Naturschutzgebiet, und die Felsen sind so richtig nur im Winter einsehbar, wenn die Bäume keine Blätter tragen. So hilft es, die Augen zu schliessen, und sich das einstige Treiben vorzustellen. 

Und dann haben ja auch die Römer ihre Spuren hinterlassen, nördlich und mitten auf den Feldern von Chavannes-le-Chêne. Dort gewannen sie in einem Steinbruch, der besichtigt werden kann, Mühlsteinrohlinge.

Zurück zu den Bewohnerinnen und Bewohner der Höhlenhäuser: Wer weiss, vielleicht erreichte der christliche Glaube noch rechtzeitig die "Anasazi" von Valle du Vaux, bevor sie diese Balmsiedlung wieder aufgeben mussten. Rein zeitlich hätte es gut sein können.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen