Donnerstag, 22. September 2022

Ideologiefrei

Ein Zitat

Haushohe Street Art beim einstigen eisernen Vorhang in Berlin thematisiert die Trennung Deutschlands in der Zeit von 1961-1989.
Foto © Jörg Niederer
"Die kompromissloseste Ideologiekritik bleibt die Bergpredigt." Paul Mommertz (*1930), deutscher Schriftsteller und Drehbuchautor

Ein Bibelvers - Sprüche 13,16

"Jeder kluge Mensch handelt nach seinem Wissen. Ein Dummer aber verrät seine Unwissenheit."

Ein Anregung

Bernd-Lutz Lange, einer der erfolgreichsten Kabarettisten und Autoren in der einstigen DDR und darüber hinaus, 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und seit 2019 Ehrenbürger der Stadt Zwickau, schreibt im Buch "Das gabs früher nicht" auch über den Wandel in der Erziehung. Und da steht nun ein interessanter Satz: "Unser Sohn Sascha war in einem evangelischen Kindergarten (das kreative Spiel ohne Ideologie tat ihm zu DDR-Zeiten besonders gut)."

Man beobachte, wie das Wort "Ideologie" zugeordnet wird. Da ist die Ideologie des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, welche damals die ganze ostdeutsche Gesellschaft durchdrang - mit Ausnahme der evangelischen Kirche, die schon von der Definition der atheistischen DDR-Doktrin her nicht zum System passte.

Einrichtungen dieser evangelischen Kirche werden nun von Bernd-Lutz Lange als in der Praxis ideologiefrei bezeichnet. Natürlich ist das ein augenzwinkernder Seitenhieb in Richtung des DDR-Weltbilds, aber auch gegenüber allen anderen Staats- und Wirtschaftsformen. Denn diese sind immer ideologisch aufgeladen. So herrscht im Westen heute die Überzeugung vor, dass gerade die Religion Ideologie sei, und folglich im staatlichen Lehrplan nur in neutraler Form behandelt werden soll. Schulen haben religiös neutral zu sein.

Dass ein evangelischer Kindergarten ideologiefrei wirke, ist eine irritierende Aussage. Kirche und Ideologiefreiheit schliessen sich aus religiös neutraler Sicht aus. Andererseits werfen rechtsorientierte politische Parteien der Schule oft eine ideologische Linkslastigkeit ihres Lehrkörpers vor. Ob war oder nicht, so zeigt dies auf, dass Ideologiefreiheit eine Illusion ist. Nichts und niemand kann sich einer mehr oder weniger realistischen weltanschaulichen Sichtweise entziehen. Alle Weltanschauung haben immer auch irrationale Anteile. Es werden wissenschaftlich nicht beweisbare Voraussetzungen gemacht. Verräterisch ist zum Beispiel die Aussage, dass der Westen auf christlichen Grundwerten aufbaue. Damit wird die ideologische Basis festgehalten.

Ich glaube, die Gesellschaft, die sich dieser ideologischen Anteile bewusst ist und diese immer wieder kritisch hinterfragt, ist auf einem ehrlicheren und besseren Weg, als Gesellschaften, die sich als ideologiefrei betrachten.

Ich bin dankbar, in einer evangelischen, religiös nicht neutralen Organisation, einer Minderheitskirche, zu wirken. Da komme ich gar nicht auf die Idee, die von dieser Kirche vertretenen Ansichten alle als allgemeinverbindlich zu erklären. Das macht es wiederum möglich, unvoreingenommen der Welt und den Mitmenschen zu begegnen. Ganz nach dem Doppelgebot der Liebe: Gott lieben von ganzem Herzen und die mir nächsten Personen (und alle andern auch) wie mich selbst.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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