Mittwoch, 25. August 2021

Kann man sich an Corona gewöhnen?

Ein Zitat

Selfie am Seniorenausflug - mit oder ohne Maske
Foto © Jörg Niederer
"In dir ist Freude / in allem Leide, / o du süßer Jesu Christ. / Durch dich wir haben / himmlische Gaben, / du der wahre Heiland bist; / ... / Zu deiner Güte / steht unser G'müte, / an dir wir kleben / im Tod und Leben; / nichts kann uns scheiden. Halleluja." Liedtext vermutlich von Cyriakus Schneegaß

Ein Bibelvers -
1. Thessalonicher 5,21-23

"Prüft aber alles und behaltet das Gute. Haltet euch vom Bösen fern – wie auch immer es aussieht. Gott, der Frieden schenkt, mache euch ganz und gar zu Heiligen. Er bewahre euch unversehrt an Geist, Seele und Körper."

Ein Anregung

Wie kann man nur jahrelang in einem Kriegsgebiet leben? Das habe ich mich schon oft gefragt. Ganz offensichtlich: man kann. Tausende von Menschen haben keine Wahl. Und irgendeinmal nehmen sie die Bombeneinschläge einfach so hin, die Übergriffe der Soldaten. Das Leben geht weiter, oder auch nicht.

Genauso ist es in dieser Coronapandemie. Wir haben uns daran gewöhnt. Noch nicht so ganz, aber immer öfter. Das zeigen die bei steigenden Ansteckungszahlen irrationalen Forderungen nach mehr Öffnung, nach weniger Restriktionen. Fatalistisch ergibt man sich ins Unabänderliche, selbst dann, wenn es sich ändern liesse. Oder ist das nun Gottvertrauen? Unlängst sass ich an einem religiösen Treffen und war einer der wenigen, der die Maske trug. Ich war der Meinung, es sei selbstverständlich für Christ*innen, seine Mitmenschen zu schützen, vor allem, wenn es so einfach ist wie mit den Coronamassnahmen. Irgendwann habe ich die Maske dann aber auch abgenommen. Wenn die andern nicht an meinem Schutz interessiert sind, warum soll ich dann sie schützen. Kein sehr christlicher Gedanke. (Das Foto hat damit nichts zu tun. Darauf sind nur Personen zu sehen, welche geimpft sind, und die auch nur für das Selfie im Freien schnell die Maske abgenommen haben.)

Kann man sich an die Pest gewöhnen. Es scheint so. Kann man sich an die Arbeitslosigkeit gewöhnen? Kann man sich an Armut gewöhnen? Kann man sich an Reichtum gewöhnen? An sexuelle Übergriffe, an Geschwätz, an Oberflächlichkeit, an chronische Schmerzen, an...

Es sind nie alle, die sich daran gewöhnen können. Aber viele können es. Und sie tun es. Andere verzweifeln daran, werden krank, können sich nicht anpassen, gehen - wie von Charles Darwin beschrieben - unter.

Anpassungsfähigkeit ist eine Stärke. Aber sie ist auch eine Schwäche. An Unrecht sollte kein Mensch sich gewöhnen. Auch nicht an Lieblosigkeit. Oder an Fatalismus.

Der christliche Glaube richtet sich gegen Gottferne und Menschenverachtung. Jesus Christus hat die Gottverlorenheit, die in all der menschlichen Not und Gleichgültigkeit zum Ausdruck kommt, nicht hingenommen. Er hat sich nicht daran gewöhnt. Das ist unser Glück, und das war sein Kreuz. Darin liegt die Hoffnung dieser Welt, dass er uns nicht einen fatalistischen Gott vermittelte, sondern die Liebe schlechthin. Wenn ich mich an etwas gewöhnen will, dann an die Liebe. Eine rücksichtsvolle, tätige Liebe.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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