Montag, 15. Januar 2024

Übersehen

Ein Zitat

Grosse Brachvögel in einer Wiese bei der Badeanstalt Holzenstein.
Foto © Jörg Niederer
"Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will." Henri Matisse (1869-1954)

Ein Bibelvers - Johannes 3,3

"Jesus antwortete: 'Amen, amen, das sage ich dir: Nur wenn jemand neu geboren wird, kann er das Reich Gottes sehen.'"

Eine Anregung

Auf der Strecke zwischen Romanshorn und Uttwil liegt das Seebad Holzenstein. In der eisigen Kälte sind nur wenige Menschen unterwegs. Ein Anwohner aus einem der Häuser direkt am Ufer führt seine zwei Hunde spazieren.

Meiner Frau fallen krähengrosse Vögel auf, die in einiger Entfernung immer wieder gemeinsam auffliegen und in der Wiese landen. Es sind Grosse Brachvögel, die am Bodensee überwintern. Früher konnte man die melodiös rufenden Schnepfen weitherum hören. Noch 2002 brüteten 500 Paare in der Schweiz. Heute weiss man von keiner einzigen Brut mehr im ganzen Land. Der Grosse Brachvogel steht auf der roten Liste, ist vom Aussterben bedroht. Um so überraschter waren wir, einen Trupp dieses charakteristischen Vogels auf dem unscheinbaren Feld zwischen den Häusern anzutreffen.

Beim Weitergehen sprechen wir mit dem Anwohner über seine Hunde, und ich frage ihn, ob es hier regelmässig Brachvögel gebe. Immerhin wohnt er direkt an dieser Wiese. Doch er schaut mich nur fragend an. Vögel interessieren ihn nicht, und so hat er sie wohl auch noch nie beachtet, obwohl sie doch recht gross sind.

Wieder einmal denke ich darüber nach, was ich wohl alles in meinem direkten Umfeld übersehe; aus Gewohnheit, aus Desinteresse, weil ich es nicht sehen will. Was verbirgt sich direkt vor meinen Augen, auch vor meinen geistigen Augen? Ich nehme mir vor, heute besonders aufmerksam durch den Tag zu gehen. Durch den Tag, an dem der meteorologische Winter zur Hälfte vorüber ist.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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