Mittwoch, 20. April 2022

Im Tick-Schritt über den Bahnsteig

Ein Zitat

Die Frauenfeld-Wil-Bahn FWB auf dem weihnachtlichen Bahnhofsplatz in Frauenfeld
Foto © Jörg Niederer
"Das Leben, dachte Michel, müsste eigentlich etwas Einfaches sein; etwas, das man wie eine Aneinanderreihung endlos wiederholter kleiner Rituale erleben kann. Rituale, die etwas albern sein durften, aber an die man trotzdem glauben konnte. Ein Leben ohne große Erwartungen und ohne Dramen." Zitat aus dem Buch "Elementarteilchen" von Michel Houellebecq

Ein Bibelvers - Matthäus 15,36

"Dann nahm Jesus die sieben Brote und die Fische. Er dankte Gott, brach sie in Stücke und gab sie seinen Jüngern. Und die Jünger verteilten sie an die Volksmenge."

Ein Anregung

Er fiel mir erstmals in der Adventszeit auf. Und weil Menschen zu immer den selben Abläufen neigen, wiederholte sich die Geschichte an den meisten Morgen, dort auf dem grossen Bahnhofsvorplatz. Ich wartete in Frauenfeld auf die FWB, die Bahn, die mich nach Wil brachte. Etwa fünf Minuten vor der quietschenden Einfahrt des Zugs begann der Mann den Bahnsteig zu begehen. Er tat es auf ganz eigenartige Weise. Mit leicht vorgebeugtem Oberkörper, als müsse er gegen starken Wind ankämpfen, aber mit kleinsten Schritten, nicht einmal die Spanne eines Fusses lang, trippelte er voran. Passanten schauten ihm aus Distanz zu, wunderten sich, fragten sich. Er liess sich davon nicht stören. Er war ganz bei sich. Es war sein Morgen-auf-den-Zug-warten-Ritual. Es war seine Geschichte. Eine Geschichte, die nur er verstand, die niemand sonst verstehen musste.

Dann kam der Zug, holte den Mann ein, hielt an, die Türen öffneten sich, Reisende entstiegen ihm, ein kurzer Moment wimmelte es auf dem Perron. Das war das Signal. Denn nun wurden die Schritte des Mannes weit. Er strebte so schnell er konnte der Bahntür entgegen und verschwand im Innern des Waggons an immer der genau gleichen Stelle. Das war der Moment, wo er alle Auffälligkeiten verlor, einer von vielen wurde, ein gewöhnlicher Mensch neben gewöhnlichen Menschen, auf dem Weg an seinen Arbeitsplatz.

Nun frage ich mich, ob dieses Ritual dem Mann die Sicherheit gibt für den Anfang seines Tages. Ist es seine Achtsamkeitsübung? Ist es seine Weise, dem Gewöhnlichen zu widerstehen?

Mit welchen Ritualen, welchen "Ticks" nehme ich meine Reise auf, ziehe ich in den Tag hinein, der Arbeit entgegen, den Begegnungen, den Monotonien und Verwirrung, den Belastungen und Befreiungen? Was hält mich im Gewimmel der Zeiten?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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