Freitag, 21. Januar 2022

Das böse Reh

Ein Zitat

Rehe am helllichten Tag in Siedlungsnähe auf dem Lutikerriet
Foto © Jörg Niederer
"Das Reh überquert nicht unsere Strassen. Unsere Strasse durchquert den Lebensraum des Rehs." Herkunft unbekannt

Ein Bibelvers - Johannes 6,35

"Jesus entgegnete: 'Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern. Und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.'"

Ein Anregung

Für einmal ist es nicht der böse Wolf, der die Gemüter erhitzt. Für einmal sind die Rehe schuld. Seit ein paar Wochen mögen sie Grabschmuck. Besonders die Rosen, Chrysanthemen und Veilchen haben es ihnen angetan. Wintergestecke mit Tannzapfen lassen sie links liegen. Kaum verwunderlich. Davon finden sie im Hätterenwald, ihrem eigentlichen Lebensraum, genug. Und so ziehen sie des Nachts für einen besonderen Dessert auf den Friedhof Feldli in St. Gallen. Dort lassen sie es sich gut gehen an den frischen Grabbeilagen.

Hätte es auf dem Friedhof Wölfe, die Rehe wären wohl kein Problem. Aber wer will schon Wölfe auf einem Friedhof. Und so kommen halt die Rehe, und geben sich der pflanzengewordenen Trauer der Menschen hin. In St. Gallen erscheinen die Tiere des Nachts, wenn sich auf Friedhöfen sonst nur Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Zu sehen bekommt man sie Hierzulande also kaum, anders als etwa in England, wo sie sich in grossen Städten schon so an die Menschen gewöhnt haben, dass sie bei helllichtem Tag den für sie gastlichen Ort bei den Grabkreuzen unsicher machen. Zum Glück gilt die Kartoffel nicht als Grabschmuck, sonst kämen auch noch die Wildschweine.

Wie wird man die Rehe auf Friedhöfen wieder los? Abschiessen geht an diesen Orten nicht. So sollen Duftspuren sie vergrämen, die nach Mensch und Hund riechen. Vermutlich aber beendet der Frühling diesen vielfachen vierbeinigen Spuk. Mit dem Aufkeimen der Pflanzen finden die Rehe dann ihre Nach(t)speise auch wieder im Wald. 

Und sonst empfehle ich für die Winterzeit einheimischen, saisongerechten Grabschmuck. Und die Freude, dass es mitten auf dem Friedhof Lebensraum gibt für diese grazilen Tiere.

Sollte der Friedhof nicht sowieso ein Raum der Hoffnung und des erwarteten Lebens sein?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen