Montag, 9. September 2024

Luft- und Sonnenbaden einst, Waldbaden jetzt

Ein Zitat

Beim einstigen Waidbad auf dem Käferberg bei Zürich wird schon lange nicht mehr gebadet.
Foto © Jörg Niederer
"Wer im Glashaus sitzt, sollte im Keller duschen." Graf Fito (1938-2022), Gebrauchsphilosoph und Abreißkalenderverleger

Ein Bibelvers - Hiob 1,21

"Nackt kam ich aus dem Leib meiner Mutter, und nackt gehe ich wieder aus dem Leben dahin. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Der Name des Herrn sei gelobt!"

Eine Anregung

Es begann damit, dass Pfarrer Theodor Stern in Köniz so um das Jahr 1900 seine Stelle verlor, weil er sich aus gesundheitlichen Gründen zu intensiv den Luft- und Sonnbädern hingab, ganz im Sinn des Schweizers Arnold Rikli (1823–1906), der seinen Patienten "Lichtbäder" ohne Bekleidung verschrieb. Kurzerhand gründete der geschasste Pfarrer das Kurhaus Waidberg auf dem Käferberg ob Zürich im Stil der Lebensreform-Bewegung. In kleinen Lufthütten und weitere Einrichtungen gab man sich unbekleidet der Natur hin. Die "Patient:innen" unternahmen dabei offensichtlich auch stundenlange, medizinisch indizierte Nacktwanderungen, an die sich die umliegende Dorfbevölkerung schon bald gewöhnte.

Das Kurhaus wechselte mehrfach den Besitzer, bis 1939 der damalige Inhaber daselbst ein Freibad erbaute. Das 50-Meter-Becken kann man auf historischen Luftaufnahmen von Werner Friedli gut erkennen, auch dass es damals an schönen Tagen gut besucht war. Für den nächtlichen Schwimmbetrieb wurde sogar eine Unterwasserbeleuchtung angebracht. 1969 wurde der Badebetrieb wieder eingestellt. Stand die Sanierung des Beckens an oder rentierte das abseits gelegene Bad nicht mehr? Ich weiss es nicht. 1980 jedenfalls wurde das Schwimmbecken zugeschüttet.

Heute noch zu sehen vom einstigen Badebetrieb sind Teile des Garderobegebäudes (Foto) und das eigentliche Kurhauses Waidberg, in dem sich nach anderen Restaurationsbetrieben heute das "Tessin Grotto" befindet, welches auf der Webseite mit dem Slogan "Staufrei ins Tessin" für sich Werbung macht.

Am vergangenen Samstag haben wir das, was vom einstigen Privatbad übriggeblieben ist, besucht. Auf der grossen Wiese grillierten verschiedene Familien ihre Würste, Kinder tobten umher und lärmten, als würden sie sich im Wasser vergnügen. Doch hier mitten im Wald schwimmt kein Mensch mehr. Es sei denn er frönt der neuen Modeerscheinung, dem Waldbaden.

Ganz anders dann unten an der Limmat, wo sich an diesem letzten Sonnentag vor der Regenfront Tausende im und am Wasser vergnügten. Doch selbst dort lief niemand nackt durch die Gegend, wie einst Pfarrer Theodor Stern und andere Naturalisten der ersten Stunde oben auf dem Käferberg.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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