Ein Zitat
"Ein Bild ist weit nützlicher als tausend Worte." Sprichwort aus ChinaFoto © Jörg Niederer
Ein Bibelvers - Psalm 27,11
"Du sollst dir kein Bild von Gott machen! Nichts, was im Himmel und auf der Erde ist und im Wasser unter der Erde, kann ihn darstellen."
Eine Anregung
Das Blatt einer Karde hat sich bei Austrocknen entlang der stachelbewehrten Mittelrippe zu einer Spirale aufgerollt. Die Seitenrippen sehen aus wie die Segmente eines Schneckenhauses. Brauntöne überwiegen.
Warum sich diese spezielle Form des verwelkten Blatts gebildet hat, lässt sich sicherlich biologisch, anatomisch und physikalisch erklären. Mir erscheint das Ergebnis wohlgeformt und harmonisch. Es tut meinen Sinnen gut. Das hat auch damit zu tun, dass diese Spiralform sich nach den Gesetzmässigkeiten der Fibonacci-Folge gebildet hat. Unter den Fibonacci-Zahlen versteht man eine unendliche Abfolge von Zahlen, bei der jede Zahl aus der Summe der zwei vorhergehenden Zahlen entsteht (1,1,2,3,5,8,13,21,34,55...). Diese Zahlen kann man als Spirale darstellen. Das könnte zwar in Worten beschrieben werden, aber am einfachsten ist es, du schaust es dir auf der folgenden Internetseite selbst einmal an.
Damit komme ich zu meinem Hauptpunkt: Kann etwas Schönes so beschrieben werden, dass es seine Schönheit behält oder sie gar in besonderer Weise erfahrbar macht? Hinkt die Sprache nicht immer der ästhetischen Wirklichkeit hinterher?
Stell dir vor, du müsstest dieses Bild vom Kardenblatt einer seit Geburt blinden Person erklären. Was würde sie sich dann aufgrund deiner Worte wohl für ein Bild machen? Wäre es das gleiche Bild, das du siehst? Wohl eher nicht.
Genau so ist es mit der Interpretation von biblischen Texten. Die meisten von uns lesen dabei Übersetzungen der Ursprache. Schon das ist eine Interpretation des Urtextes. Dann legen wir diese Worte wohl immer wieder unterschiedlich (zu einem Bild) aus, je nach unserem Verstehens- und Erfahrungshorizont. Wir mögen uns einig sein in manchen groben Grundzügen von biblischen Kernaussagen. Doch je weiter wir ins Detail gehen, desto unterschiedlicher werden unsere Wahrnehmungen. Wahr-nehmung ist es dann zwar für den einzelnen, aber für eine andere Person ist daran etwas anderes "wahr". Aus diesem Grund können wir uns nur gemeinsam der ganzen Wahrheit annähern, ohne dass wir davon ausgehen können, dass wir uns beim Betrachten der biblischen Texte je einmal alle auf ein einziges gemeinsames Bild davon einigen werden.
Den Menschen, die in der Bibel vorkommen, war dies durchaus schon lange bewusst. Das lässt sich besonders gut beobachten anhand der Aussagen über das Bilderverbot (siehe Bibelvers oben!). Gott ist mit nichts vergleichbar, was wir sehen und benennen könnten. Wir sind wie Blinde, die sich aufgrund von Worten ihr eigenes Bild machen. Aber keines der Gedankenbilder kommt der Wirklichkeit näher als unbedingt nötig. Bei Gott stehen wir buchstäblich an. Darum sollen wir uns eben kein Bild von Gott machen. Wir müssen uns in Geduld üben. Denn Gott ist auch nicht der Durchschnitt aller menschlichen Sichtweisen. Gott ist anders, als ich ihn mir vorstelle.
Wenn ich es dann so versuche, und mit der Bibel sage, dass Gott Liebe ist, würde ich damit schon die nächste Diskussion auslösen: Was nämlich Liebe ist.
Was ist also Liebe? Ich jedenfalls liebe dieses Bild vom Kardenblatt, das sich zu einer Spirale aufgerollt hat.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen
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