Montag, 22. Juli 2024

Opportunismus

Ein Zitat

Ein Tannenhäher auf dem Eichhörnchenweg in Arosa wartet auf fütternde Passanten.
Foto © Jörg Niederer
"Opportunismus verkauft sich, verbal aufgehübscht, gerne auch mal als Flexibilität." Thom Renzie

Ein Bibelvers - Galater 2,12

"Zunächst hatte er [Petrus] nämlich zusammen mit Menschen aus den Völkern gegessen. Aber dann kamen einige Leute aus dem Kreis um Jakobus. Da zog er sich zurück und hielt sich von ihnen fern. Denn er hatte Angst vor den Leuten jüdischer Herkunft."

Eine Anregung

Nachdem ich nun schon viele Male im Gebirge war, habe ich mir diesmal schon erhofft, endlich einmal einem Tannenhäher zu begegnen. Nun sind mir diese Rabenvögel buchstäblich um die Ohren geflattert. Auf dem Eichhörnchenweg in Arosa verfolgen sie die Passanten in der Hoffnung auf eine Baum- oder Haselnuss. Meist lassen sie die Eichhörnchen die Nüsse bei den fütternden Menschen aus der Hand abholen, beobachten dann die Nager, wo sie diese Nüsse verstecken und holen sie dort wieder aus dem Depot. An diesem Touristenort sind beide, Eichhörnchen und Tannenhäher, zu Opportunisten geworden. Sie holen sich das Futter da, wo die Arbeit dafür am geringsten ist. Dazu braucht es aber eine lückenlose Fütterung der Tiere, wofür wohl Tourismus Arosa besorgt ist.

Die Vögel mit dem grossen kräftigen Schnabel und den weissen Punkten auf der braunen oder schwarzen Brust sind die wichtigsten Bergwaldpflegerinnen und -pfleger. Sie haben sich auf Arvennüsschen spezialisiert. Davon sammelt jeder Vogel so 30'000 bis 100'000 pro Jahr und versteckt diese in Vorratsdepots. Ihr Gedächtnis ist hervorragend, finden sie doch 80% dieser Nüsschen über den Winter wieder, teils unter meterhohem Schnee. Aus den anderen Depots entwickeln sich dann neue Arven, und zwar an Orten, an denen kein Mensch und kein anderes Tier und auch der Baum, vom dem sie stammen, sie hätte hinpflanzen können.

Erstaunlich, dass sich lange die Meinung hielt, Tannenhäher würden den Wald schädigen. Darum wurden sie gejagt und geschossen, wie heute noch immer die Eichelhäher. Heute sind es andere Tiere, die aus dem selben Grund auf der Abschussliste stehen. Etwa soll der Bestand der Biber oder Kormoran wieder vermehrt reguliert werden, was nichts anderes bedeutet, als dass sie wieder abgeschossen werden sollen.

Wir Menschen habe eine etwas eingeschränkte Erkenntnis über die Welt. Daraus entsteht ein kurioses gegensätzliches Verhalten. Einerseits füttern wir Wildtiere, weil sie "härzig" sind, andererseits töten wir diese Tiere, weil sie schädlich sein sollen. Es kommt halt darauf an, was wir gerade wollen. Im Zoo soll es Nachwuchs geben, da junge Tiere Besuchende anlocken, zugleich gibt es von vielen Zootieren zu viele Junge, als dass sie alle am Leben gelassen werden könnten. Also werden diese geschlachtet, was bei Bären auch schon nicht gut angekommen ist, als bekannt wurde, dass das Fleisch dann in einem Restaurant auf dem Gourmettisch landete.

Letztlich sind wir Menschen die grössten Opportunisten. In der Religion bedeutet das: Wir glauben, wenn es uns etwas nützt. In der Natur gilt: Wir lassen Schöpfung zu, wenn sie uns etwas bringt. In der Finanzwelt gilt: Wir machen mit, wenn wir dabei reicher werden können. So gesehen hinken wir Menschen selbst den Tannenhähern hinterher.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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