Freitag, 22. März 2024

Wien und das jüdische Erbe

Ein Zitat

Ein erleuchteter Davidstern auf einem Mast erinnert in Wien an die einstige jüdische Gesellschaft und Kultur.
Foto © Jörg Niederer
"Antisemitismus ist keine Meinung. Er ist eine Perversion. Eine Perversion, die tötet." Jacques Chirac (1932-2019) anlässlich einer Rede zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals in Paris am 25. Januar 2005

Ein Bibelvers - Esther 3,6

"Man hatte Haman gesagt, zu welchem Volk Mordechai gehörte. Nun wollte Haman alle Juden vernichten, die irgendwo im Reich von König Xerxes wohnten. Denn sie waren das Volk, zu dem Mordechai gehörte."

Eine Anregung

Erst als mich mein Wiener Kollege Stefan Schröckenfuchs auf sie aufmerksam gemacht hatte, sind sie mir aufgefallen. Die Mahnmale bei einstigen jüdischen Einrichtungen. Am Tag und aus seitlicher Distanz sehen sie wie wirre, an verwelkende Blumen erinnernde Stahlrohrrosetten auf einem Mast aus. Erst wenn man darunter steht und nach oben schaut, formt sich aus dem Rohrgewirr ein Davidsstern. In der Nacht leuchtet er wie eine Lampe die Umgebung aus. Jeden Tag bin ich vom Hotel zur Kirche an einem dieser Sterne vorbeigekommen, da wo einst der Storchentempel in die Häuserzeile integriert war. Wie viele andere wurde er 1938 durch die Nationalsozialisten zerstört.

Die Evangelisch-methodistische Kirche Wien Fünfhaus befindet sich in einer einst stark jüdisch geprägten Gegend. Auf dem Weg in die Innenstadt kamen wir auch einmal an der 2011 künstlerisch gestalteten Gedenkstätte für den ebenfalls 1938 mit Handgranaten in Brand gesetzten Turnertempel vorbei, die überhaupt dritte, in Wien gebaute Synagoge. Bei Wikipedia lese ich: "Im Jahr 1935 gab es in Wien 6 Tempel, 89 Bethäuser, 55 zeitweilige Beträume, 55 Sprach- und Bibelschulen, 18 Seelsorger, 73 Religionslehrer und 117 religiöse Vereine... Insgesamt verfügte Wien in den Jahren vor 1938 bei einer Gesamtbevölkerung von knapp zwei Millionen über einen jüdischen Bevölkerungsanteil von rund 10 % bzw. rund 200.000 Personen. Nach 1945 zählte Wien etwa 5.000 jüdische Einwohner, bei der letzten Volkszählung 2001 waren es rund 7.000, das sind weniger als 0,5 %." 

1938 steht für den Auftakt einer beispiellosen Zerstörung jüdischen Lebens in Europe durch die Nationalsozialisten. In Wien und an vielen Orten ist es augenfällig.

Heute werden die Stimmen wieder lauter, die auf irreale Weise den Juden die Schuld am Elend in der Welt geben. In vielerlei Hinsicht ist dies eine Täter-Opfer-Umkehr. Am selben Tag, an dem wir den Platz beim einstigen Turnertempel passierten, begegneten wir bei der Hofburg einem kleinen, aber lautstarken Umzug von systemkritischen Menschen und Verschwörungsgläubigen. Allen voran drei, vier Freiheitstrychler, die vielleicht extra dafür aus der Schweiz angereist waren. Diese zusammengewürfelten Menschengruppen sind ein fruchtbarer Nährboden für den Antisemitismus.

Als christliche Kirchen ist es gut, wenn wir an den Seiten all der Menschen stehen, die allein ihres Glaubens und ihrer Herkunft wegen verleumdet und verfolgt werden. Dazu gehören nebst den Christinnen und Christen in vielen Ländern bei uns immer auch die jüdischen und muslimischen Menschen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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