Donnerstag, 28. März 2024

Der heilige Gral

Ein Zitat

Kanzel im Stephansdom Wien
Foto © Jörg Niederer
"Nur einer ist euer Führer, Jesus Christus!" Predigtbotschaft am 7. Oktober 1938 im Stephansdom Wien durch Kardinal Theodor Innitzer (1875-1955)

Ein Bibelvers - Offenbarung 2,7

"Wer ein Ohr dafür hat, soll gut zuhören, was der Geist Gottes den Gemeinden sagt: 'Wer siegreich ist und standhaft im Glauben, dem gebe ich vom Baum des Lebens zu essen. Das ist der Baum, der in Gottes Paradies steht.'"

Eine Anregung

Da steht er also, der Heilige Gral! Selten ist mir die Kelchform der Kanzel so sehr aufgefallen, wie im Stephansdom in Wien. Nach der Mythologie ist der Gral eine "geheimnisvolle, wundervolle Schale, aus Stein oder Kristall, die immer nur Auserwählten oder Berufenen sichtbar ist". So steht es im Wiktionary-Beitrag dazu. Als heiliger Gral wird eine Schale bezeichnet, welche beim letzten Abendmahl von Jesus verwendet worden sein soll.

Dass eine Kanzel dem Kelch nachempfunden ist, der bei der Eucharistie- oder Abendmahlsfeier verwendet wird, ist irgendwie naheliegend. Man denke an die nach katholischer Lesart erfolgende Verwandlung von Wein in das Blut Christi. Aus etwas Profanem wird durch den feierlichen Nachvollzug des letzten Abendmahls etwas Heiliges, Verbindendes. 

So kann man sich vorstellen, dass im Kanzelkelch einer Kirche durch den Mund von Verkündigerinnen und Verkündiger kluge und wortgewandte Reden zu heiligem Wort Gottes werden. Es geschieht eine Verwandlung. Mitten in der wortlärmigen Welt wird an diesem einen Ort Sprache zu Hoffnung, bekommen Wortfetzen Sinn, geben Halt und Weisung.

So wie damals in Wien, als Kardinal Theodor Innitzer - er unterstützte den Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland und läutete die Glocken, als Hitler 1938 Wien besuchte, weiter bezeichnete er diesen als "von Gott gesandten Führer" - von der Kanzel im Stephansdom vor 9000 Jugendlichen verkündigte: "Nur einer ist euer Führer, Jesus Christus!". Das war wohl auch eine Art Verwandlung, die da im Kanzelkelch geschehen ist. Oder war sich der Kardinal der Brisanz seiner Worte nicht ganz bewusst? Jedenfalls stürmten am folgenden Tag Trupps der Hitlerjugend das erzbischöfliche Palais.

1940 gründete ebendieser Kardinal Innitzer die Erzbischöfliche Hilfsstelle für nichtarische Katholiken. Durch deren Einsatz konnten hunderte katholischen "Nichtarier" ins sichere Ausland fliehen.

Möge also der "Kelch Christi" noch manche Wandlung vom Bösen zum Guten bewirken.

Übrigens: Wer die Kanzel in Stephansdom besteigt, sieht auf dem Geländer der Treppe, die hinaufführt, wie die Eidechsen und Lurche (sie stehen für das Gute) gegen die aus dem Sumpf entstiegenen Frösche (sie stehen für das Böse) kämpfen. Geschieht da auf dem Weg zur Verkündigung auch ein innerer Kampf von Gut gegen Böse?

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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