Ein Zitat
"Wer die andern neben sich klein macht, ist nie gross." Johann Gottfried Seume (1763-1810)Foto © Jörg Niederer
Ein Bibelvers - Lukas 18,4-5a
"Lange Zeit wollte sich der Richter nicht darum kümmern. Doch dann sagte er sich: 'Ich habe zwar keine Achtung vor Gott und ich nehme auf keinen Menschen Rücksicht. Aber diese Witwe ist mir lästig'."
Eine Anregung
Früher haben wir Quartett gespielt. Ein Satz mit Karten, auf denen Bilder von z.B. Militärpanzern oder Sportwagen oder Tieren abgebildet waren, wurde auf zwei oder mehr Personen verteilt. Dann versuchte einer einen aufgeführten Wert (z.B. das Gewicht des Panzers oder Tiers) von der oben aufliegenden Karte zu nennen, der höher war als die entsprechenden Werte auf den Karten der Mitspielenden. Wer den höchsten Wert in der Spielrunde hatte, bekam die jeweiligen Karte aller andern. Ziel war es, so den ganzen Stapel an Spielkarten zu erobern.
Die Grösste, der Stärkste, die Schnellste... Da las ich unlängst, wie jemand sich fragte, ob nun der Respekt einem Schwan oder einer Gans gegenüber angebrachter sei. Beides sind Gänsevögel und bringen ein erhebliches Gewicht auf die Waage. Bei der Graugans sind es bis 3,7 kg, beim Höckerschwan bis 12 kg. Die Sache scheint klar. Der Schwan gewinnt im Quartett der Vögel.
Davon wusste aber die Graugans nichts, die uns am Waldweiher "Inner Cholmoos" unweit vom der Findlingsgruppe Erdmannlistein auf die Pelle rückte, als wir dort einen Picknickhalt einlegten. Mit Bestimmtheit forderte sie ihren Anteil, wobei sie neben sich keine Konkurrenz duldete, immer wieder andere sich nähernde Vogelpaare vertrieb, ja selbst dem eigenen Partner oder der Partnerin keinen Bissen gönnte. Kam hinzu, dass der allzu zutrauliche Vogel uns immer wieder anfauchte, just dann, wenn er von uns etwas erhielt. Dieweil verursachten die verschiedenen Grauganspaare bei Abstecken ihrer Brutreviere einen gespenstischen Hitchcock-Soundtrack.
Ich bin sicher, die Graugans hätte auch jeden Höckerschwan vertrieben. Selbst vor einem anwesenden grossen Jagdhund wich der Vogel keinen Schritt zurück.
Wieviel daran nun Bluff war, und wie viel wahre Stärke, weiss ich nicht. Ich wollte es auch nicht ausprobieren. Die Gans kam mir ein bisschen so vor, wie die Witwe in einem Gleichnis, das Jesus erzählte (Lukas 18,1-8). Das handelt von einem wohl korrupten Richter, der alle Macht auf seiner Seite hatte, und doch einer Witwe nachgab, weil diese ihn hartnäckig immer wieder aufsuchte und ihr Recht einforderte. Aus der Begründung seines Nachgeben: "Sonst verpasst sie [die Witwe] mir am Ende noch einen Schlag ins Gesicht", höre ich beim Richter eine gewisse Ironie heraus. Die Frau war lästig. Sie spielte ihre Stärke in einer Weise aus, dass der Stärkere nachgeben musste und wollte.
Auch bei der Gans habe ich mir gesagt: Man weiss ja nicht, am Ende zwickt sie mich noch ins Bein, wenn ich ihr nicht gebe, was sie will. In diesem Quartett-Spielzug des Lebens hat eindeutig die Gans gewonnen und mir Respekt abverlangt.
Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen
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