Mittwoch, 29. September 2021

Die Erosion in Gebirge und Kirche

Ein Zitat

Karrenfeld zwischen Gamserrugg und Käserrugg
Foto © Jörg Niederer
"Verurteile niemanden dafür, dass er nicht so denkt, wie du denkst: Jeder Mensch soll die volle und uneingeschränkte Freiheit haben, für sich selbst zu denken. Jede Person soll für sich selbst urteilen, denn jeder Mensch muss vor Gott Rechenschaft ablegen." John Wesley

Ein Bibelvers - Matthäus 7,1+2

Jesus: "Ihr sollt andere nicht verurteilen, damit Gott euch nicht verurteilt. Denn das Urteil, das ihr fällt, wird euch treffen. Und der Maßstab, den ihr an andere anlegt, wird auch für euch gelten."

Ein Anregung

Zwischen Gamserrugg und Chäserrugg, da wo die Wintersportler auf dem Schnee über die Ostabfahrt talwärts schwingen, offenbart sich im Sommer ein ansehnliches Karrenfeld. Auf dieser relativ flachen, freiliegenden Kalkformation haben sich durch chemische Zersetzung die typischen Schrunde und Schratten gebildet. Wie steingewordene Sorgenfalten überziehen sie die sanften Hänge und machen ein Durchkommen zu einem Balanceakt auf Steinsrippen. 

Auch unterirdisch verläuft die Erosion nach den selben Gesetzmässigkeiten, es bilden sich Höhlen, da wo das Wasser sich einen Weg zu Tal sucht. Dolinen sind nicht selten Eingänge in eine faszinierende Unterwelt. Geologische Orgeln - senkreckte hohle Felspfeiler - gleichen den Orgelprospekten in den Kirchen. 

Für uns Menschen ist die Erosion ein langsamer Prozess. So langsam, dass es schwerfällt, die Veränderungsprozesse wahrzunehmen. Was wir sehen können, sind dessen Ergebnisse. 

Geschieht ähnliches in übertragener Weise auch in Kirchen? Stehen wir heute vor dem Ergebnis eines lange andauernden Zersetzungsprozesses, in dessen Verlauf wir es zunehmend verlernt haben, mit unterschiedlichen Glaubensansichten konstruktiv zurechtzukommen? Oder wie ist es zu verstehen, dass wir heute der Gefahr, über andere zu urteilen, scheinbar leichter erliegen als zur Zeit, als sich die methodistische Reformbewegung bildete und John Wesley die Verantwortung über das Denken jedem Individuum zugestand.

Heute will ich besonders darauf achten, dass ich aufgrund des Denkens meiner Mitmenschen nicht über Wert oder Unwert ihres Glaubens unterteile.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

2 Kommentare:

  1. Matthaus 7,15-17: Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte.… Für mich bedeutet dies konkret: Eine Glaubens-Richtung bringt Früchte des Glaubens: Liebe, Hoffnung, Befreiung von dem Zwang Sünde. Eine Unglalubens-Richtung bringt die Früchte des Unglaubens: Hass, Angst, Knechtschaft der Sünden. Fazit: wo die Kirche die Früchte des Glaubens bringt, wächst und gedeiht sie. Wo die Kirche die Früchte des Unglaubens bringt erodiert sie, und stirbt ab.

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  2. Danke Robert für deinen Beitrag. Nun sind meine Gedanken stark persönlich formuliert. Beim heutigen Nachdenken wurde mir bewusst, wie schnell ich meine, Recht zu haben und andere danach beurteile. Und so trifft es zuerst mich, wenn Jesus davor warnt, angesichts eines Splitters im Auge des andern den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Immer mehr komme ich zur Überzeugung, dass es bei Christus nicht darum gehen darf, zum Richter über den Mitchristen zu werden. Und es fällt mir schwer, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der genau das tut: Sich ein Urteil anzumassen über seine Schwester, seinen Bruder. Wenn es für mich einen Status Confessiones gibt, dann orte ich ihn da, wo wir Christinnen und Christen einander verurteilen aufgrund unserer unvollkommenen Erkenntnis.

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