Montag, 19. Juli 2021

Unterwegs zwischen Gesetz und Gnade

Ein Zitat

Schweizer Studierende 1981 am Theologischen Seminar in Reutlingen.
Foto: Brief des Schweizerischen Freundeskreis 1981
"Wer sich an das ganze Gesetz halten will, schreibt Paulus, der muss es ganz halten (Galater 5,3f), da gilt kein Bibel-Picking aus den fünf Büchern Mose." Manfred Marquardt

Ein Bibelvers - Galater 5,3-5

"Ich sage es noch einmal mit allem Nachdruck jedem, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz einzuhalten. Ihr habt dann mit Christus nichts mehr zu tun. Jeder, der durch das Gesetz vor Gott als gerecht gelten will, hat damit die Gnade verspielt. Wir aber dürfen durch den Geist Gottes hoffen, aufgrund des Glaubens vor Gott als gerecht zu gelten."

Ein Anregung

In einem Zwischenruf im Unterwegs 2021/15, der Zeitschrift der deutschen Methodisten, schreibt der ehemalige Dozent für Systematische Theologie und Ethik an der Theologischen Hochschule Reutlingen zu Thema: Wie hilft die Bibel ethische Entscheidungen zu treffen?

"Das Alter hat seine Beschwerden, aber auch gewisse Vorzüge. Der Zeitraum der Erinnerungen ist länger, solange das Gedächtnis noch einigermaßen intakt ist. Manche werden sich mit mir erinnern, dass erst im Jahr 1969 die erste Pastorin in Deutschland ordiniert wurde und dass noch in vielen Jahren danach Gemeinden aus Gehorsam gegenüber der Bibel sich weigerten, die bischöfliche Dienstzuweisung einer Pastorin zu akzeptieren... Wie anders sähe unsere Kirche ohne ordinierte Frauen aus?
Während meines Studiums in Reutlingen wurde einem Studenten im vorletzten Studienjahr die Entlassung aus dem Dienst angedroht, falls er sich mit seiner späteren Frau verloben wolle; er hatte um die Erlaubnis dafür gebeten. Und wenige Jahre danach wurde ein Pastor vom Dienst suspendiert, weil eine Scheidung seiner Ehe anstand. (Titus 1,6)
Kirchenkritische Zeitgenossen haben uns damals vorgehalten: Mit Bibelzitaten kann man ja vieles rechtfertigen: die Prügelstrafe für Kinder (Sprüche 13, 24: 'Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn beizeiten'), das Halten von Sklaven, die Todesstrafe, die Vernichtung von Andersgläubigen. Auch die Tötung von Homosexuellen, wenn ihre Veranlagung bekannt wird. Und das alles hat mit kirchlicher Segnung auch stattgefunden.
Wer sich an das ganze Gesetz halten will, schreibt Paulus, der muss es ganz halten (Galater 5,3f), da gilt kein Bibel-Picking aus den fünf Büchern Mose. Es lohnt sich, wenigstens das Dritte Buch Mose (Levitikus) einmal gründlich und ganz zu lesen. Irgendwann wurde uns klar, dass das Evangelium das Gesetz zwar nicht abschafft, aber in das helle Licht der Verkündigung Jesu stellt und so Gottes Willen erkennen lässt. Entscheidend ist dann doch der Glaube an Gott, das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Bereitschaft, sich von seinem Geist leiten zu lassen. 'Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.' (Römer 8,14) So gilt es zu prüfen, was der Wille Gottes ist, und sich an ihm auszurichten. So haben es Luther und Wesley gemacht und uns die Auslegung der Heiligen Schrift mit Hilfe der Beachtung des Kontextes, der Tradition, der Erfahrung und der Vernunft gelehrt.
Diese Mühe bleibt auch den einfachen Bibellesern nicht erspart, wenn sie die Glaubenszeugnisse der Heiligen Schrift verstehen wollen. Hier gilt es zu unterscheiden: aufmerksam, nachdenkend und betend zu lesen und sich mit Anderen auszutauschen. Gut, wenn sie nicht in allem der gleichen Meinung sind. Wir sind noch unterwegs, gern gemeinsam."

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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