Samstag, 4. Januar 2025

Niele und Strubabuaba

Ein Zitat

Die Samen der gewöhnlichen Waldrebe sind im Winter oft mit Eiskristallen überzuckert.
Foto © Jörg Niederer
"Keiner kennt die Menschen so gut wie die Bettler, Beichtväter und Banker." Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Ein Bibelvers - Lukas 17,12+13

"Er kam in ein Dorf. Dort begegneten ihm zehn Männer, die an Aussatz erkrankt waren. Sie blieben in einiger Entfernung stehen und riefen laut: 'Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns!'"

Eine Anregung

Schon mein Vater hat sie geraucht, die verholzten Stängel der Gewöhnlichen Waldrebe. Mit leicht verschmitzten Blick hat er uns diese Jugenderinnerung gerne erzählt. Da mussten wir Kinder es doch heimlich ausprobieren. Damals war das eines unserer Waldabenteuer. "Niele" nannten wir sie in der Schweiz. 

Viel später, als Erwachsener, habe ich es noch einmal ausprobiert, einfach um zu schauen, was wir uns da als Kinder angetan haben. Vom Nielerauchen wird wohl niemand süchtig. Das war und ist beileibe kein Genuss. Den beissende Rauch einzusaugen ist eher schon so etwas wie eine Selbstkasteiung, bei der die Übelkeit auf dem Fuss folgt.

Aktuell sind die federbehafteten Samen an den bis 12 Meter langen wuchernden und rankenden Lianenpflanzen aus der Gattung Clematis nicht zu übersehen. Ihres bärtigen Aussehens wegen wird die Gemeine Waldrebe im England "Old man's beard" genannt. Im deutschsprachigen Raum ist sie auch als Bettlerskraut bekannt. Der Saft der Pflanze ist giftig. Wird er auf die Haut gerieben, bilden sich darauf Bläschen. So "behandelt" haben sich Bettler früher ein für ihre Arbeit bedauernswertes Hautbild und Aussehen verschafft. Negative Kosmetik, sozusagen. Darum wird die Pflanze wohl auch Teufelszwirn genannt, eben ein richtiges Teufelszeug. Wieder einmal muss also der Angstprotagonist der Menschen und Gegenspieler von Gott für die Bezeichnung einer Pflanze herhalten. 

Einfach schon als Wort schön und lustig anzusehen ist die im Vorarlberg geläufige Bezeichnung "Strubabuaba". Übersetzt heisst das wohl "Wilder Knabe".

Ihren wuscheligen Samensträngen begegne ich im Winter fast täglich, zum Beispiel auch am Hauptbahnhof St. Gallen, wo das Rankengewächs Geleiseabsperrungen überwuchert. Besonders schön sind diese luftigen Samenbällchen, wenn sie ein Kleid aus winzigen Eiskristallen tragen. So wie auf dem zu diesem Text gehörenden Foto. Da muss ich doch wieder einmal über ein kleines Naturwunder staunen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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