Donnerstag, 18. November 2021

Die Frauenfelder Bahnhofsmaus

Ein Zitat

Hausmaus auf dem Perron 1 am Bahnhof Frauenfeld
Foto © Jörg Niederer
"Es ist kein Haus / Ohn eine Maus." Sprichwort

Ein Bibelvers - 1. Samuel 6,3+4

[Rat der Wahrsager an die Philister, welche die Lade der Israeliten erbeutet hatten und nun unter Krankheiten litten.] "Wenn ihr die Lade des Gottes Israels loswerden wollt, dürft ihr sie nicht ohne ein Geschenk zurückschicken. Ihr müsst Gott etwas zur Wiedergutmachung geben. Dann werdet ihr gesund und werdet begreifen, warum er euch so sehr bedrückt. Tut ihr das nicht, wird Gott nicht damit aufhören, euch seine Macht spüren zu lassen. Sie [die Philisterfürsten] fragten nach: Was könnte das für ein Geschenk sein, das wir ihm zur Wiedergutmachung geben? Da erhielten sie die Auskunft: Fünf goldene Geschwüre und fünf goldene Mäuse, das entspricht der Zahl der Philisterfürsten. Denn Geschwüre und Mäuse sind ja die Plagen, unter denen ihr alle leidet wie auch eure Fürsten."

Ein Anregung

Ich war viel zu früh am Bahnhof. Das war nicht gut. Wer wartet schon gerne in eisiger Bise. Während ich überlegte, was ich nun tun könnte, stellte ich kurz das Gepäck auf den fleckig schmutzigen Boden. Da sah ich sie. Die Hausmaus huschte an mir vorüber und verschwand in der schmalen Ritze bei den Ladenvorbauten. Kein schöner Ort zum Leben, dachte ich.

Immer wieder tauchte das Tierchen auf, rannte zu einem Brotkrümel oder etwas anderem Essbaren, und zog sich dann ebenso schnell wieder in seine Ritze zurück. Erst jetzt entdeckte ich das Erbrochene an der Hauswand, die lieblos funktionalen Baustoffe, die verblassenden Markierungen auf dem Asphalt. Der Maus war es egal. Kein anderer Mensch störte sie bei ihrer Arbeit. Es war die Zeit zwischen den Zügen, da ist der Bahnhof wie für die Mäuse erbaut. Es war Mäusezeit.

Als weitere Passanten auftauchten, schlüpfte das Tierchen noch einmal aus seinem Spalt, sprintete diagonal hinüber zu einer Betonsäule und verschwand dort in der abgedeckten Regenwasserrinne, die sich entlang des ganzen langen Bahnhofs hinzog. Das muss die Mäuseschnellstrasse sein, dachte ich, der Highway oder besser die Metro zur weiten Welt der Nager. 

Da war ich also einmal viel zu früh am Bahnhof. Doch dank der Maus war sogar dies ein kleines Geschenk des Himmels (oder müsste ich sagen: der Unterwelt?).

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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