Donnerstag, 1. Dezember 2022

Das Fremdenspital beim Gallusbrünneli

Ein Zitat

Eine Amsel in einer Eibe bei der Wassergasse 22 in St. Gallen.
Foto © Jörg Niederer
"Das Militär wird immer humaner: Bald werden die Rekruten später geweckt als die Spitalpatienten." Gerhard Kocher (*1939), Schweizer Politologe und Gesundheitsökonom

Ein Bibelvers - Maleachi 3,20

"Dann wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen für euch, die ihr meinen Namen fürchtet. Unter ihren Flügeln gibt es Heilung. Ihr werdet herauskommen und herumspringen wie Kälber, die aus dem Stall gelassen werden."

Eine Anregung

Im gestrigen Blogbeitrag schaute ich von der Methodistenkirche in St. Gallen hoch zum Hügelzug Bernegg. Heute geht mein Blick aus meinem Büro auf die andere Seite, hinunter und über die Wassergasse zu den Bürogebäuden der Raiffeisenbank. Dort stand einst das Fremdenspital von St. Gallen. Während die Stadtbürger im Bürgerspital behandelt wurden, pflegte man alle anderen Bewohner der Stadt in diesem Spital für "Fremde". Ab 1822 wurden dort auch moderne Heilverfahren angewandt, zum Beispiel die Verwendung von Narkosemitteln. Das Spital war in der Stadt bekannt als Rietmannsche Haus. Dazu gehörte der Gallusbrunnen und ein kleiner Garten.

Mit der Errichtung eines ersten Gebäudes des Gemeindespitals an der Rorschacher Strasse, welches 1873 zu einer kantonalen Institution wurde, hob man das Fremdenspital auf. In der Folge wurde aus dem Rietmannschen Haus das Restaurant Buchegger, benannt nach dessen Wirt Franz Karl Buchegger, und dann ab 1948 das Restaurant Gallusbrunnen. 1875, als die erste methodistische Kapelle eingeweiht wurde, fand man sich schon nicht mehr in Nachbarschaft zu einem Spital. Und heute sind beide, das Rietmannsche Haus und die Kapelle, Geschichte.

Wenn ich in diesen Tagen aus meinem Arbeitszimmer hinausschaue, sehe ich die Amseln, wie sie vor den grauen Hauswänden, da wo einst das Fremdenspital zu finden war, in den Ästen einer Eibe herumturnen. Ich stelle mir vor, wie damals die Kranken von der gegenüberliegenden Seite aus dem Fremdenspital den Vögeln im Garten vor dem Gallusbrünneli zuschauten. Das muss ein schöner, heilsamer Anblick gewesen sein.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen / Koreanische Gemeinde

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