Dienstag, 22. Juli 2025

Sonntagmorgen in Spreitenbach

Ein Zitat

Kaum jemand ist am Sonntagmorgen unterwegs beim Shoppi Tivoli in Spreitenbach
Foto © Jörg Niederer
"Das größte Vergnügen im Leben besteht darin, Dinge zu tun, die man nach Meinung anderer Leute nicht fertigbringt." Marcel Aymé (1902–1967)

Ein Bibelvers - 2. Mose 32,6

"Am nächsten Tag standen sie früh auf und brachten Brandopfer und Schlachtopfer dar. Das Volk setzte sich nieder. Sie aßen und tranken. Dann standen sie auf, um sich zu vergnügen."

Eine Anregung

Sonntagmorgen in Spreitenbach. Die Strassen sind menschenleer vor dem Shoppi Tivoli, da wo sich sonst der Verkehr staut und die Menschenmassen ihre Einkäufe mehr oder weniger lustvoll tätigen. Eine Frau steigt in das leere Tram, Zürich zu. Das sonst quirlige, 1950 als Satellitenstadt für bis zu 35'000 Einwohner:innen geplante Siedlungsgebiet zeigt sich von ungewohnt ruhiger Seite. Später, auf dem Weg zum Heitersberg-Gipfel, wenn Flugzeuge über uns dröhnend Urlauber aus- und einfliegen, wünschen wir uns ironisch in das stille Spreitenbach zurück, dahin wo das ersten Einkaufszentrum der Schweiz entstand. Später fusionierte es mit einem zweiten Einkaufszentrum zum heutigen Shoppi Tivoli.

Anfänglich profitierte die verhinderte Stadt vom Konkubinatsverbot im Kanton Zürich. So zogen viele unverheiratete Paare nach Spreitenbach, das im Kanton Aargau liegt. Dort durfte man ohne Trauschein schon früher zusammen wohnen als ist der nahen Weltstadt Zürich. Während der Ölkrise und der Wirtschaftsflaute der 1970er Jahre brachen die hochfliegenden Ideen der Städteplaner in sich zusammen. So ist Spreitenbach auch heute noch ein Dorf. Ein städtisch wirkendes Dorf mit knapp 12'500 Einwohner:innen.

Etwas später landen wir im alten Bauerndorfkern. Dort herrscht auch kein hektisches Treiben. Aber es ist deutlich mehr los, als vor dem verwaisten Shoppi Tivoli. Uns begegnen viele ältere Menschen. An der alten, paritätischen Kirche führt der Wanderweg hinauf zum Wald. Wir sehen sie nur von aussen. Daneben steht eine viel grössere Kirche direkt angrenzend zum naturnahen Friedhof. Auf ihrer Spitze kräht der protestantische Hahn. Im Innern entpuppt sich diese sogenannt neue, aber auch schon alte Kirche als römisch-katholisches Gotteshaus.

Der Friedhof ist nicht unter den Sehenswürdigkeiten von Spreitenbach gelistet. Das erlaubt die Pietät wohl nicht. Dabei sollte er das. Selten sah ich einen so idyllischen Totenacker, und noch nie in direkter Nachbarschaft zu einem Ortsteil, der mit dem Namen Tivoli an die von Kaiser Hadrian gebaute, etwa 30 Kilometer von Rom entfernte, vergnügliche Sommerresidenz Tibur erinnert.

Den Menschenmassen, welche die Tramlinie 20 wochentags herankarrt, oder die individualverkehrt heranlärmen, bleibt dieser friedliche Ort verborgen. Viele "vergnügen" sie sich lieber mit Einkaufwägelchen. Diese sind im alten Dorfkern nicht erwünscht, wie die überdimensionierten Verbotstafeln, aufgemalt auf den Gehwegen ausgangs des Einkaufstempels, mehr als deutlich signalisieren.

Also: wenn es dich wieder einmal nach Spreitenbach zieht, dann lasse für einmal den Plastik-Einkaufskorb stehen und besuche das alte Spreitenbach mit seinen Kirchen, den alten Bauernhäusern und dem Speicher aus dem 16. Jahrhundert. Auch nicht fehlen darf ein Päuschen auf dem wildromantischen Friedhof. Da ist es fast wie in den Gärten der Villa d’Este oder Villa Gregoriana von Tibur-Tivoli. Man muss ja nicht ewig an diesem friedlichen Ort verweilen.

Jörg Niederer ist Pfarrer in der Evangelisch-methodistischen Kirche St. Gallen-Teufen

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